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Und die Welt hebt an zu spielen – Wie Videospiele mir das Phantasieren lehrten

Vorwort: Ich muss erklären, dass dieser Text kaum ein Zielpublikum hat. Auf der einen Seite bin ich von jungen Menschen umgeben, die die poetische Macht der Videospiele nie infrage stellen würden. Meine besten Freunde setzen sich beruflich seriös mit Videospielen als narrativen Kunstwerken auseinander und müssen darum nicht erst von meinen Thesen überzeugt werden. Auf der anderen Seite begegne ich nach wie vor starkem Kultur-Pessimismus gegenüber Videospielen. Erst kürzlich hörte ich einen Vater seinen Sohn in dessen Abwesenheit(!) als «Junkie» bezeichnen, weil er sich so sehr beim Spielen verliert und das täglich. Es schmerzt mich, solche Vorwürfe zu hören, weil ich weiss, wie schön das Spielen im jungen Alter ist und wie sehr solche Vorwürfe wehtun können. Als Germanist und Anglist sehe ich mich verpflichtet, die universelle Erfahrung, die sich heutzutage in den Videospielen äussert, zu verteidigen. Meine Alterskohorte muss ich nicht, andere kann ich nicht überzeugen. Versuchen werde ich es trotzdem.

 

Ich will eingangs von einem kleinen Kindheitstrauma erzählen, das meine Sicht auf Kunst geprägt hat. Mein Kindergarten gab uns täglich Mandalas zum Ausmalen. Laut Wikipedia ist ein Mandala «…ein figurales oder in der Form des Yantra aufgebautes geometrisches Schaubild, das im Hinduismus und Buddhismus in der Kultpraxis eine magische oder religiöse Bedeutung besitzt.» Mandalas sind eigentlich, um sie visuell grob zu charakterisieren, filigrane und psychedelisch anmutende Muster. Unsere Mandalas hatten am katholischen Kindergarten keine religiöse, geschweige denn psychedelische Bedeutung. Sie hielten uns  hyperaktive Kinder einfach lange beschäftigt, weil das Ausmalen der vielen verwinkelten Muster eines Mandalas seine Zeit braucht. Die Erzieherinnen am Kindergarten warben mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen der Mandalas. Manche Mandalas waren nur für die besonders geschickten Kinder oder für die älteren Klassenstufen. Und ich muss zugeben, ein ausgemaltes Mandala, in dem sich die geometrische Konstellation in der Farbenkombination niederschlägt, das ist schon ein netter Augenschmaus.

Doch diese psychedelische Farbenpracht kollidierte einmal mit der erzieherischen Strenge einer Kindergärtnerin (beim Schreiben rutscht mir immer wieder das Wort «Aufseherin» raus, das ich dann nur widerwillig streiche). Wir Kinder sassen dereinst an unseren Mandalas, wie jeden Tag eigentlich, nur dass Ostern vor der Tür stand und die Mandalas saisongerecht Ostermotive beinhalteten. Bunte Ostereier mit Mustern-im-Muster, diese wiederum in üppigen Ostereier-Nestern, die ihrerseits Kreise-im-Mandalakreis waren, und so weiter. Wie mein Mandala an dem Tag aussah, weiss ich nicht mehr im Detail; nur, dass es vier gleiche Segmente hatte, in deren Mitte je ein Osterhase war. Ich stand damit vor einer künstlerischen Entscheidung, deren Konsequenzen ich noch nicht erahnte. Nämlich ob die Hasen realistisch in brauner Farbe einzufärben waren oder in psychedelischer Façon mit verschiedenen, hasen-untypischen Farben. Ich dachte zunächst nicht darüber nach und entschied mich beim obersten Hasen für dunkelblau. Besagte Kindergärtnerin schritt derweil durch die Gänge zwischen den gleichförmigen Tischen, an denen jeweils vier Kinder still vornübergebeugt die repetitiven Muster einfärbten. Ihr Blick streifte wie ein Suchscheinwerfer über die Tische und schimpfte hier und da wegen einem falsch einsortierten Farbstift oder unsauberer Farbarbeit. Als sie hinter meinen Rücken vorbeikam, bezichtigte sie mich forsch: «Calos, wo host du scho an blaun Hasn gseng?!»

 

 

Ihr Name war übrigens Frau Braun. Man kann jetzt lang und breit die farblich normative Kunstauffassung Frau Brauns kritisieren. Und das hatte ich auch vor. Ich will mich aber auf einige Kernpunkte begrenzen: 1. Kunst kann, aber muss eben nicht, unsere Erfahrungen 1:1 wiederspiegeln, 2. der artistische Kontext, also die psychedelische Natur der Mandalas, entbindet uns von jeglicher Pflicht zum Realismus, 3. Authentische hinduistische Mandalas sind immer realitätsfern; ihre inhärente Logik hat wenig mit Realismus zu tun, sehr wohl aber mit Symmetrie bei gleichzeitigem farblichen Kontrast. Und überhaupt, der theologisch sicher interessante Ansatz, Ostermotive durch den Exotismus-Fleischwolf zu jagen und das Resultat von Kindern einfärben zu lassen, ist bereits gewissermassen realitätsfremd. Doch der wichtigste Punkt ist für mich: 4. Ich hatte schon häufig bunte Tiere gesehen. Und nicht nur in Kunstgallerien, wo man sie erwarten würde. Also dort auch; ich war als Kind ein grosser Fan von Franz Marc und seinen so prächtig-eindrucksvollen wie niedlichen Tierdarstellungen gewesen («Das blaue Pferd», «Die gelbe Kuh», «Die grünen Gämse» uvm.). So wie Franz Marcs «Kämpfende Kühe» nicht alle drei dieselbe Farbe haben können, so wäre es für mich damals kontraintuitiv gewesen, ganze vier ansonsten gleichförmige Hasen einfach nur braun einzufärben. Aber Franz Marc war dabei nicht allein für diese Intuition verantwortlich, sondern meine Videospiele. Wenn man in Smash Bros für die Nintendo 64 mit einem Freund zusammenspielt und sich beide für den Gorillakämpfer Donkey Kong entscheiden, was passiert dann? Nur einer kann original braun sein (Donkey Kong ist braun, obschon echte Gorillas schwarz sind). Der andere wird wahlweise grau, blau oder rot. Link ist wohlbekannt als der Held in grün. Doch als Avatar ist er selbstverständlich replizierbar und das durchaus auch in seiner Gegenfarbe rot. Avatare – so wie Mandalas ursprünglich aus dem Hinduismus – haben meine Kunstauffassung also früh geprägt. Das bezeugt diese Kindheitserinnerung, in der ich eine Farbenlogik aus einem Videospiel in einen andere künstlerischen Kontext übertragen hatte. Ich möchte in diesem Text erzählen, wie Videospiele für mich weit mehr als Unterhaltung oder gar eine Sucht waren; sie waren nichts Geringeres als ein bunter Ort voller Formen und Möglichkeiten, aber auch von Herausforderungen und schier unendlichen Neuinterpretationen der mir bekannten Welt. Videospiele waren Inspiration in Reinform. Ich möchte zeigen, wie ich in Videospielen frühe und prägende poetische Erfahrungen machte, die in meiner Kunstauffassung und überhaupt in meinem gesamten Innenleben bis heute nachhallen.

 

Videospiele sind nicht nur Unterhaltung. Das wirkt jetzt vielleicht überraschend und wie eine gewagte These, weil diese simple Beobachtung den gängigen Vorstellungen widerspricht. Damit meine ich die typische Darstellung von Videospielen in Filmen: Ein emotional abwesendes Kind sitzt allein da und aus einem Kasten kommt lautes Gewirr von Explosionen und synthetischen Missklängen. Das Kind aus dem Spiel zu holen ist unmöglich, es ist zur Gänze unterhalten und eingenommen; ausserdem wirkt sein Charakter durch diese Abwesenheit oder wahlweise auch durch Wutausbrüche schon unumkehrbar entfremdet und verdorben. Hier habt ihr es zuerst gesehen: Das Abendland geht wieder einmal unter. Diesmal dank Videospielen.

 

Ich denke, hinter dieser Darstellung steckt nicht die Entfremdung des Kindes, sondern die Entfernung zum Kind. Das Kind isoliert sich nicht selbst, die Eltern halten sich nur fern von den neumodischen Kinderaktivitäten. Über diese Distanz kommt nur alles Laute und Unangenehme bis zu ihnen rüber. Wenn der Fernseher zu laut eingestellt ist, etwa, oder das Kind vor lauter Frust über eine schwierige Stelle im Spiel laut wird. In stillen Momenten, aber, verschwindet das spielende Kind aus der elterlichen Wahrnehmung. Es fällt nicht mehr auf, wenn es gerade still einen langen Monolog über die Unterdrückung durch den bösen König liest oder einfach nur die weite Welt seines Spiels erkundet. Weil solche Momente nicht registriert werden, entgeht den meisten Erziehungsberechtigten, dass Videospiele auch leise und poetisch sein können; so auch, dass die Emotionen bei den Spielenden die volle Bandbreite einnehmen können. Nicht nur Anstrengung, Frust und Action – auch Neugier, Verwunderung und Anmut – letztere Stimmungen sind delikat und leise; und sie fallen nicht auf.

 

Sind alle diese unterschiedlichen Spielmomente aber stets unterhaltsam? Ich denke nicht; ich denke auch, dass das selbstverständlich ist. Geschichten sind ja grösstenteils ebenfalls unterhaltsam. Und trotzdem sind sie das nicht durchgängig. Eine Abenteuererzählung von einer langen Schiffsreise erzeugt das Hauptinteresse natürlich mit einem Schatz oder einem anderen weit entfernten Ziel. Was wäre so eine Geschichte aber ohne Schilderung des weiten – mal blauen, mal grauen – Meeres? Das Wasser ist mal voller Wellen und Antrieb, mal ist es melancholisch ruhig. Stürme und Lebensgefahr gehören zu einer Geschichte genauso wie stille Kontemplation. Ferner, selbst wenn sich ein solcher Text nicht in langatmiger Kontemplation verlieren sollte, die angeregte Leserschaft wird das dann von alleine tun. Das dünne Buch «Die Reise auf der Morgenröte» von C.S. Lewis war für mich unendlich schön, immer wieder tagträumte ich vom Schiff, von den mythischen Inseln, von dieser weiten weiten Phantasiewelt.

 

Mit Videospielen verhält es sich genau gleich. Die schönen Steppen von Zeldaspielen durchstreifte ich oft ohne konkretes Ziel. Mit Zielfernrohren in Kriegsspielen schaute ich immer wieder auf den Boden, um das sanfte Wippen von Grashalmen und die Textur der Erde im Detail zu mustern, ganz wie Karl May, der vor einer Schlacht zuerst die Vegetation einer Steppe ausgiebig beschreibt. In Videospielen bin ich damit auch nicht alleine. In seinem Experimentalfilm Rehearsals for Retirement verarbeitet der Filmemacher Phil Solomon seine Erfahrung mit dem Klassiker Grand Theft Auto (GTA). Der Film kommt nachdenklich und atmosphärisch daher. Wie ein lethargischer Kunstfilm sieht man lange Einstellungen von leeren Landschaften. Nur durch den Kontrast von diesen Landschaften und darauf folgenden Nahaufnahmen winziger Details entsteht ein gewisser Bild-Rhythmus, ja sowas wie eine Erzählung… allein bei der Beschreibung klingt man wie ein Kunst-Schnösel. Der Clou dabei ist: Die Einstellungen entstammen allesamt den GTA-Spielen. Das wirkt zunächst wie ein Widerspruch: Diese Spiele sind nämlich kontrovers. Sie schmücken sich schamlos mit Gangster-Ästhetik, machen es einem spielend einfach, schwer kriminell zu sein, und eine Strassenschiesserei folgt dort auf die nächste. Wenn man um die blutige Geschichte der US-amerikanischen Ghettos weiss, wirkt der Erfolg der GTA-Serie wie ein schlechter Scherz. Wenn man danach bedenkt, wie im 19. Jahrhundert die Misere des Londoner Proletariats, die nebeltreibende Umweltverschmutzung und blutige Gräueltaten wie jene von Jack dem Ripper die Inspiration für, unter anderem, Sherlock-Holmes-Geschichten boten, so wirkt auch GTA nicht mehr abwegig. Abwegig ist es dann auch nicht mehr, dass man sich beim Spielen in der Kulisse verliert und meditativ die artifizielle Welt durchstreift; ganz wie ein Krimileser, der das Buch auf dem Brustkorb ruhen lässt und langsam die Gedanken im Londoner Smog verlierend eindöst.

 

Videospiele sind dadurch unendlich. Man kann sie nicht nur immer wieder sondern auch immer genauer spielen. Manche Orte oder Elemente entstehen auch durch Zufallsgeneratoren, sodass man durch ständiges Wiederholen entdecken kann, was der Zufall alles erschaffen kann – ähnlich wie Künstler in der Frühromantik, die ewig lang in die fraktal-gleichen Muster von Moos starrten, fasziniert von der Unendlichkeit. Jede Videospiel-Welt trägt auch eine Unendlichkeit in sich. So entdeckte ich beispielsweise in einem Rennspiel, wie ich aus der vorgesehenen Bahn hinausspringen konnte. Was davor beim Spielen wie eine komplette Landschaft ausgesehen hatte, zeigte sich hinter den Schranken als kontextloses Stück Strasse inmitten einer unendlichen Leere. Ich fuhr gen Horizont aber fiel schon einige Meter neben der Strasse unendlich tief hinab. Die Strasse und die Landschaft wurden über mir immer kleiner und unter mir sah man in allen Richtungen dasselbe hellrote Dämmerlicht. Diese Unendlichkeit faszinierte mich, obwohl darauf nichts wirklich geschah. Ich hatte die mir bekannten Schranken der Welt durchbrochen und war in den Äther gefallen. Das war cool. Und faszinierend.

 

Unendlich schienen Videospiele auch dank ihrer quasi psychedelischen Erzählweise. Ein anderes Wort als psychedelisch fällt mir da einfach nicht ein; ganz besonders bei Super Mario. Wie soll man denn sonst eine Geschichte nennen, die von einem italienischen Klempner handelt, der eine Prinzessin vor einer dämonischen Schildkröte retten will, aber zuerst die Kraft-Sterne in den Welten sammeln muss, die er via die vielen Gemälden des Schlosses erreicht? Ohne jeglichen Kontext klingt die Reise durch Gemälde nach Alice im Wunderland. Die Prinzessin und die böse Echse klingen nach Märchenelementen und der italienische Klempner wie etwa eine ironische Modernisierung des tapferen Schneiderleins. Lewis Carroll, der Autor von Alice im Wunderland, litt an schweren Migränen, weswegen man ihm nachsagt, er habe in diesen qualvollen Migräne-Anfällen die Inspiration für seine Werke gefunden. Tatsächlich benannte er einen seiner weniger bekannten Texte Die Jagd auf den Schnatz – Eine Agonie in acht Anfällen. Für mich ist dieser Text stellenweise ein Videospiel avant la lettre, denn er nimmt ihre Erzählweise unter einigen Gesichtspunkten vorweg. Zum einen behilft sich das Jagdteam in der Erzählung mit einer Ozeankarte, die nur und ausschliesslich den Ozean zeigt. Sprich, sie ist vollkommen leer. Ähnlich wie diese weisse Karte kriegt jeder Held in Videospielen schon am Anfang die Möglichkeit gezeigt, sich in Spielwelt kartographisch zu orientieren. Doch müssen diese Karten meist erst befüllt werden: Erst wenn man einen Ort besucht hat, ist er auch auf der Karte verzeichnet. Anfangs sind die Karten typischerweise leer. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der Jagd auf den Schnatz und Videospielen wäre da die irre Assemblage von Figuren. Die Jagd auf den Schnatz wird von einem achtköpfigen Team bestritten: von einem Glöckner, einem Helmschmied, einem Anwalt, einem Billard-Schiedsrichter, einem Banker, einem Börsenhändler, einem Bäcker und einem Biber. Genauso selbstverständlich fliegen wir in Star-Fox-Spielen los begleitet von einem sarkastischen Falken namens Falco, einem altmodischen Esel namens Peppy und einer vorlauten Kröte namens Slippy Toad; die Befehle kommen von oben, also von einem Hund in Uniform namens General Pepper. Psychedelische Erzählweise ist unheimlich kombinierfreudig, weswegen jede erdenkliche Assemblage von Figuren irgendwie sinnvoll werden kann. Psychedelisches Erzählen, egal wie ironisch oder willkürlich es anmutet, muss keine Farce sein. Den acht Anfällen von Carroll haftet durchwegs eine Dringlichkeit an.

 

Auch für Spiele ist der Ernst essentiell. Sigmund Freud schreibt, dass das Gegenteil von Spielen nicht Ernst sei – wie man naiv annehmen könnte – sondern die Wirklichkeit. Das Spiel ist laut ihm also eine ernstzunehmende Unwirklichkeit. Die Jagd auf den Schnatz wird von einer Warnung begleitet, die ab und an fällt: Der Schnatz ist ein Boojum! Das ist eine kryptische, aber stets bedrohliche Aussage: Das Jagd-Team horcht auf, wird nervös, fürchtet um sein Leben! Der Schnatz ist wirklich ein Boojum! Rezipiert man Carrolls Geschichten wie ein Kind, muss man einen Boojum aufgrund der blossen Warnung fürchten. Denn als Kind bringt man das volle Selbstverständnis mit, dass die Schnatzjagd und Alices Wunderland trotz eigenwilliger Präsentation und fehlendem Realitätsbezug dennoch ernst sind. Genauso ist es für die Spielerschaft erstaunlich, wenn wir in Super Mario 64 erfahren, dass Bowser eigentlich ein Koopa ist. Die Konsequenz dieser Feststellung ist weniger wichtig. Es hat einfach genau dieselbe Selbstverständlichkeit wie die Warnung bei Lewis Carrol: Der Schnatz ist ein Boojum! Eine Behauptung von Dringlichkeit wird in den Raum gestellt. Und dadurch entsteht Dringlichkeit. Wie ein Zauberspruch: Auf Worte folgen Tatsachen. Die dafür nötige Magie ist unsere eigene Kreativität. Kreativität ist wiederum, wie gesagt, eine ernste Angelegenheit. Carrolls sogenannte Nonsens-Dichtung, wie sie in der Forschung üblicherweise genannt wird, und Nintendos Wunderwelten sind verspielt in der Namenswahl und Zusammenstellung der Elemente, doch sind sie keine Farce. Sie bieten Kindern eine neuartige und stellenweise unendliche Fläche, um dort ihr wildes, phantastisches und horizonterweiterndes Spiel auszutragen.

 

Ich bin nicht der erste, der das Psychedelische an Nintendo-Spielen beobachtet. Der amerikanische Komiker Conan O’Brien versuchte sich an verschiedenen Videospielen und hatte Folgendes über Nintendo zu sagen: «Jeder Nintendo-Angestellte ist offensichtlich auf LSD. […] Ich wüsste gerne, welche Ideen es dort nicht schaffen und von Nintendo aussortiert werden. ‘Er heisst Jib-Jab! Er ist ein Blib-blorb! Er geht nach Gimbar!’», äfft er einen besinnungslosen Nintendo-Creative nach. In einem Podcast wird er gefragt, was sein Lieblings-Pokémon ist, worauf er ohne zu zögern ein Dutzend Pokémon erfindet: «Shaikadu! Sieht aus wie eine Wassermelone und hat vier Augen», oder «Rowkopoo! Das ist eine Zahnbürste aus Russland. Sie trägt einen Tweed-Anzug» oder auch «Goglihu. Eine Kuh, die nach Hause kommt und wie ein Astronaut gekleidet ist.» – O’Brien teilt meine Begeisterung für Videospiele leider nicht. Damit steht er auch nicht alleine. Er missachtet auch, dass Pokémon keine Nonsens-Namen tragen, sondern dass sie und ihre Namen vielmehr anhand heterogener Wort-Bezüge gebildet werden. Hier greift eher die vorhin erwähnte Assemblage-Technik als die des selbsterklärenden Nonsens. Trotzdem offenbaren seine Scherze, dass Nintendos Werke unsere Welt neu anordnen; eine Fähigkeit, die in vormodernen Zeiten Orakeln, Propheten und dichtenden Stimmen zuteil kam, sowie Gauklern und Clowns. Also an der Peripherie des menschlichen Intellekts angesiedelte Künstler.

 

Ähnlich wie solche Menschen sprechen auch Videospiele die starke Phantasie von Kindern an und fördern sie. Heutzutage ist das noch nicht genug kommentiert worden. Das japanische Videospiel-Unternehmen Sega war sich dessen durchaus bewusst und nannte seine letzte Konsole «Dreamcast». Auch Nintendo inszenierte sich als Ort der Phantasie. Die Intro-Sequenz von Smash Bros 64 zeigt ein Kinderzimmer, durch das eine Hand schwebt. Sie greift zielsicher in eine Kiste und holt eine Mario-Figur heraus. Die Hand wirft die Figur auf einen Schreibtisch und rückt dann verschiedene Gegenstände dort zurecht. Ein Stapel Bücher und eine Lampe grenzen eine Fläche ein, eine Pikachu-Puppe wird auf die eben gebildete Fläche gegenüber von Mario platziert und eine Box von Taschentüchern bildet ein Hindernis zwischen den beiden. Die Hand zählt mit ihren Fingern von 3 herab und aufs Kommando erhebt sich Mario. Ihm wurde Leben eingehaucht und er ist sofort zum Kämpfen bereit. Das ist eine wahnsinnig bedeutungsschwangere Sequenz. Mario ist wie ein Schatz in seiner Truhe, die Meisterhand erinnert an einen Marionettenspieler, was wiederum eine Metapher für den Schöpfer einer Erzählwelt ist (Geschichtenerzähler als gottgleiche Figur) und natürlich: Der Moment des Erwachens ist der Übergang in die Phantasie, ins Wunderland. Die angeordneten Dinge sind nicht mehr sich selbst, sondern etwas Aufregenderes, Höheres, das dennoch ihrer eigentlichen Form gleicht – ganz wie im Zauberer von Oz. Aus der Lampe wurde ein Schlossturm und aus dem Bücherstapel die Mauer einer mittelalterlichen Arena. Und mit Mario als heroischen Avatar kann ich nicht anders, als diesen Schritt in die Spielwelt hinein mit dem Betreten von Narnia oder mit der Romantik zu vergleichen. Wie das Anschalten einer Konsole aus dem grauen Alltag all diese Abenteuer und Gefühle erweckt, das weckt in mir dasselbe Gefühl wie Eichendorffs Wünschelrute: «Es lebt ein Lied in allen Dingen / Die da träumen fort und fort / Und die Welt hebt an zu singen / Triffst du nur das Zauberwort» – das sollte beim Starten einer Konsole immer genau so ertönen. Oder eben: Die Welt hebt an zu spielen. Same difference.

 

Romantik sehe ich auch in Folgendem Beispiel: Immer wieder liest man im Internet, wie melancholische junge Erwachsene in ihre alten Minecraft-Welten zurückkehren. Sie schreiben von ihren damals errichteten Gebäuden, beziehungsweise wie diese jetzt leerstehen. Sie phantasieren davon, wie die Tage in dieser Welt monoton und leer weitergegangen sind. Es erhoben sich tausend Tage und schliefen dann in tausend Nächten wieder ein. Ihre Gebäude wurden zu Ruinen einer vergangenen Zivilisation. Was diese Leute da heraufbeschwören ist voller Nostalgie, Sehnsucht und Selbstfindungslust; kurz: Es ist pure Romantik. Zum einen sind die virtuellen Orte in Minecraft wie das Hotel im kindlichen Sommerurlaub: Ein verloren gegangener Ort, der rückwirkend magisch erscheint und in dem man jetzt viel Sehnsucht und Melancholie hineinprojizieren kann. Doch der Zusatz, dass diese Spieler phantasieren, wie die Minecraft-Welt jahrhundertelang weiterging, ihre Bauten zu kolossalen Ruinen der vergangenen Welt wurden, das übersteigt die Sommerhotel-Nostalgie um einiges. Darin zeigen sich ähnliche Leidenschaften wie hinter romantischen Texten à la Ozymandias. Ein Reisender aus antikem Lande berichtet da von einem gigantischen Königsdenkmal, das mit grenzenloser Macht prahlt, die jener König offensichtlich verlor, da um seine Statue herum nur noch eine leere Wüstenlandschaft gähnt. Die vergangene Macht und die beeindruckenden Bauwerke, die dort gestanden haben müssen, erwecken in mir dasselbe Gefühl wie Gedanken über vergangene Minecraft-Welten. «Der Mensch kommt, der Mensch geht, ohne weiteren Grund», singt Manu Chao. Die Orte, die der Mensch dabei hinterlässt, sind hinterher Mahnmale seiner Vergänglichkeit, also Sterblichkeit. Die Kinder der Videospiel-Generationen erfahren dieses Memento-Mori-Gefühl virtuell, aber nicht weniger real.

 

Weil Spiele so ernst sind, so sind es auch die Emotionen dabei. Ich spüre das in den Kommentaren zu Videospiel-Musik. Sie hat, ähnlich wie Filmmusik, eine enge Beziehung zu ihrem Begleitmedium und steht niemals alleine, auch dann nicht, wenn wir sie alleine hören. Hören wir die Film- oder Videospiel-Musik, hören wir direkt unseren emotionalen Bezug zum Spiel. Und was erzählen uns die Menschen im Internet, wenn sie die Musik der Wasserlevel in Super Mario 64 kommentieren: Dass es wie ein Samstagmorgen in 1996 klingt, dass es nach einer sorgenlosen Zeit klingt, dass es sie an ihre Kindheitsfreunde erinnert werden und bisweilen dass sie ganz doll weinen müssen. Ich habe den Versuch gemacht und dieselbe Melodie einem Freund gezeigt, der das Spiel nie gespielt hat. Obwohl ich sie wunderschön finde und davon ausging, dass sie darum auch für sich alleine stehen kann, kam bei ihm keine Reaktion auf. Der Hörgenuss speist sich wohl ausschliesslich aus den Emotionen des Spielerlebnisses.

 

Die Gefühle beim Spielen sind aber intrikater noch als einfache Rührseligkeit. Ich möchte von einer Musik erzählen, die für mich alles ist. Es ist ein Mashup von Together We Ride, einem Lied aus Fire Emblem, und dem Hauptthema der FireEmblem-Spielserie. Kennengelernt habe ich diese zwei Lieder aber als eines, in dem das erste und letzte Drittel von «Together We Ride» sind und der Mittelteil jenem Hauptthema entnommen ist. Besagtes Mashup erklingt in Super Smash Bros Melee, wenn man mit einer der Fire-Emblem-Figuren, Roy oder Marth, den Story Mode gewinnt. Ich habe immer mit dem kühnen Prinzen Roy gespielt. Ein jugendlich hübsches Aussehen, eine kitschig-prächtige Rüstung, wilde rote Haare, ein Heldentenor, ein feuerspeiendes Schwert. Der war einfach cool. So, wie ein Recke zu sein hat. Und wenn ich die Musik höre, eröffnet sich mir eine ganze Gefühlswelt. Der erste, feurige Teil singt von erpichten Kämpfen, grosser Anstrengung, flammenden Explosionen und Siegen. Wenn das erste Drittel dann vorbei ist und das nachdenkliche Klavier einstimmt, gesellt sich einiges an Wehmut hinzu. Doch es ist eine affektierte, leicht gestelzte Wehmut, die das Heldenhafte nur steigert. Wenn dann das Schlagzeug einen Marsch-Rhythmus vorgibt und die Synth prächtig zu singen anhebt, wird aus der Melancholie eine brüderliche Feierlichkeit. Das Lied wird zu einem quasi universellen Ethos der Brüderlichkeit erhoben, eine Art zu sagen «Ja, es ist hart und unerbittlich, so ein Held zu sein, aber es ist dadurch auch wunderschön». So kitschig wie das klingen muss, so spiegelt es meine Sicht auf Roy wieder als bewundernswerten Märchenheld. Ausserdem zeigt es, wie ich die scheinbar sinnlosen Kämpfe in Smash Bros vermenschlicht habe. Das Melancholische zeigte für mich, dass die kämpfenden Avatare – in meinem Verständnis des Spiels – auch ein Innenleben haben müssen. Sie kämpfen für irgend etwas. Sie hassen sich nicht, sondern konkurrieren untereinander bei gleichzeitigem Respekt füreinander; ja, sogar mit einer brüderlichen Liebe füreinander. Das freundschaftlich Brüderliche steht ja auch im Titel mit “Bros” der verniedlichenden Form von «Brothers». Auch die TV-Werbung zeigte, begleitet vom Song «Happy Together», wie sich die Figuren eher wie raufende Jungs verhalten.

 

Beim Raufen, dem spielenden Kämpfen, geht auch Freundschaft einher. Wie bei jedem Spiel fördert das Erlebnis die Gefühle füreinander, obwohl man scheinbar gegeneinander antritt. Spielen verbindet eigentlich immer. Mehr noch, selbst Spiele, die für einen einzigen Spieler ausgelegt sind, konnten ein sozialer Anlass sein. Man wechselte sich ab, man rätselte gemeinsam, man half sich gegenseitig, das Spiel zu verstehen und die Siege fühlten sich wie sodann geteilte Siege an, selbst wenn nur einer von beiden Freunden den Controller in der Hand hielt. Diese Erfahrungen dürften wohl für jeden plausibel klingen. Was weniger offensichtlich scheint, ist der dadurch verursachte Erfolg vom Let’s-Play-Format. Millionen von Menschen sehen sich heutzutage Videos an, in denen jemand ein Spiel durchspielt und das dabei kommentiert, bzw. darauf reagiert, wie man häufig zu sagen pflegt. In diesem Format sind wir mit unserer Freude am Spiel nicht mehr allein. Jemand anderes erlebt dieselben Dinge und wir stellen eine empathische Verbindung her, wenn wir seine oder ihre Reaktionen teilen. In vielen Romanen kommt eine Verleger-Figur o.Ä. vor, die den eigentlichen Roman einleitet, dazwischen kommentiert und möglicherweise das Werk abschliessend einrahmt. Noch ähnlicher ist der antike Chor, der in Stücken präsent ist, auf das Geschehen reagiert und damit dem Publikum eine Identifikations-Stütze gibt. Alles Erwähnte sind letztendlich gleich funktionierende Zwischen-Instanzen, die sich mit dem Publikum verbünden und so das Interesse am Inhalt steigern oder unsere Reaktionen lenken. Wahrscheinlich spielte schon in der Literatur und im Theater ein gewisser sozialer Instinkt eine Rolle dabei.

 

Bei Videospielen spielt das Soziale ganz offensichtlich mit. Besonders in der Adoleszenz schätzt man solche Verbindungen sehr, insbesondere weil in einem herkömmlichen, also physischen, sozialen Umfeld nur wenige genau dieselben Spiele gespielt haben wie einer selbst. Online finden aber Gleichgesinnte immer zielsicher zueinander. Meine erste Erfahrung mit Let’s Plays hatte ich anhand von Majora’s Mask. Dieses Spiel aus der Zelda-Reihe hatte ich im Sommer vor meinem ersten Gymnasial-Schuljahr gespielt. Es war eine ungewisse Zeit, ich stand vor einem grösseren Wandel, würde bald vermehrt in die grosse Stadt gehen anstatt in die ländlichere Grundschule und verbrachte weite Teile des Sommers alleine. Es waren die langen Ferien, meine Eltern waren beide berufstätig, mein deutlich älterer Bruder nicht mehr viel in der Stube. Man soll mich aber nicht falsch verstehen, ich habe diese Zeit genossen. Jeden Morgen stellte ich die Konsole an, betrat die Zauberwelt und befand mich sogleich auf dem Marktplatz von Unruh-Stadt, der Kulisse von Majora’s Mask. Dieses Spiel verbindet alles, was ich bisher über Videospiele gesagt habe. Ein psychedelisch anmutendes Fest steht bevor, der Karneval der Zeit. Doch ein Mond mit einer riesigen Fratze kommt der Stadt unaufhaltsam näher und droht, die Stadt samt Umgebung zu verwüsten. Der Held kann das nur durch Zeitreisen aufschieben und steht dann immer wieder auf dem Markplatz von Unruh-Stadt, exakt 72 Stunden vor der Katastrophe. Eine Unendlichkeit tut sich da auf durch die ewigen Wiederholungen, ein Fegefeuer, dem man mit heldenhaften Tugenden entkommen muss. Die Geschichte des Spiels ist geprägt von Gefangenen und Besessenen, die der Held mit seiner Musik und seinen Taten befreien kann. Dieses Meisterwerk hat eigentlich seine eigene Besprechung verdient, ich belasse es aber mal bei diesen bewundernden Worten. Es dürfte klar sein, dass dieses Spiel für mich prägend war. Let’s Plays dazu boten wiederum eine Möglichkeit, später dorthin zurückzukehren. Nicht nur würde ich dann die Geschichte wieder sehen, ich würde erleben, wie jemand anderes meine Eindrücke teilt. In den Kommentaren könnte ich dieser Person Tipps geben oder besonders lustige Momente kommentieren. Die Magie von Majora’s Mask ist wiederholbar! Das Let’s Play bot die Möglichkeit einer Wiederholung durch Zeitreise, passenderweise. Wichtiger noch: Die schönen sozialen Kindheitsmomente, in denen man sich ein Spiel teilte, sind es ebenfalls – bis zu einem gewissen Punkt. Die psychologische Forschung spricht hier von sogenannten «parasozialen» Beziehungen, weil man als Zuschauer zwar eine Beziehung zum Performer hat, aber nicht umgekehrt. Zu wenig Beachtung findet aber der Umstand, dass viele echte Freundschaften online und wegen Videospielen gepflegt werden. Sogar Liebesbeziehungen habe ich auf diesem Wege entstehen sehen. Beachtung finden aber dank reisserischen Schlagzeilen natürlich scheinbar neue, befremdliche Moden: Wie zum Beispiel, dass die parasozialen Beziehungen lukrativ sind: Ein Datenleak der Spieleplattform Twitch hat gezeigt, dass schon dutzende Let’s Player allein durch Zuschauerspenden Millionäre geworden sind.

 

Nicht nur ein soziales Bedürfnis stillen diese Let’s Player. Ein gewisser Youtuber erreichte binnen weniger Monate eine millionenköpfige Fangemeinde mit seinen Minecraft-Videos. Er spielte nicht das übliche Minecraft mit den kolossalen Bauwerken wie vorhin besprochen. In seinen Videos wird er von seinen Mitspielern gejagt und er versucht immer wieder zu entkommen oder sich in Unterzahl kämpfend zu wehren. Sein Name, Dream, ist dabei Programm. Seine Videos sind nämlich clevere Illusionen. Er behauptet zwar, alles entstehe organisch, doch ich erkenne in ihm einen geschickten Zauberer von Oz. Die gezeigten Situationen sind nämlich stets exakt aufgebaut, wie meine eigenen Tagträume damals. Denn in Tagträumen sind Videospiele nochmal um einiges erhöht. Man erträumt sich perfekte Szenen: Verzweiflungsmomente und die zündende Idee oder ein Fünkchen Glück, knapp hinter dem Helden zugehende Tore, scheinbar Unmögliches im entscheidenden Moment vollbracht zum grossen Erstaunen aller. Exakt diese Art von Phantasien beschreibt Freud in seinem Text Der Dichter und das Phantasieren und erwähnt beiläufig das Phänomen, dass Menschen beim Tagträumen solcher Erzählmuster schneller gehen; exakt wie ich es tat beim Phantasieren über mögliche Videospiel-Szenarien. Ja, ich wurde regelrecht zur Sportskanone, wenn sich diese Tagträume richtig einstellten. Dream weiss um den Reiz solcher Szenen und denkt sich immer buntere und erstaunlichere aus. Eine solche Szene hatte zudem Ähnlichkeit zum Reichenbach-Fall von Sherlock Holmes. Seine Mitspieler trieben ihn auf einen hohen Felsen, der über einen Lava-See ragte. Dream schien bezwungen und sprang. Er fiel von seinen Gegnern bejubelt – in den Tod. Doch halt! Er hatte einen Ass im Ärmel: Er hatte vorhin heimlich einen Feuer-Resistenz-Trank getrunken und schwamm ungesehen in der Lava davon. In einer anderen Szene hatte sein Gegenspieler einige Objekte in einen Abgrund fallengelassen und Dream war hinterhergesprungen, um sich aus diesen fallenden Objekten eine Teleportations-Kugel zu schnappen, die er dann knapp vor Aufprall aktivierte. Vermutlich war es kein Versehen von seinem Mitspieler gewesen, das wertvolle Objekt genau dann dort hinunterzuwerfen. Die Emotionen, die Konstellationen der Ereignisse, Setup und Ausgang, alles ist Teil der Performance. Es ist klar, dass ein Performer mit solchen Kunststücken eine starke Resonanz findet. Dream hat die Beziehung zwischen Tagtraum und Spektakel genau verstanden. Minecraft ist für ihn eine Bühne, auf der er dem Publikum genau das bietet, was es schon immer sehen wollte. Er ist nichts weniger als ein genialer Zauberer.

 

Es drängt sich hier auf, etwas zu den Schattenseiten von Videospielen zu sagen. Denn Videospielen wird nachgesagt, dass sie süchtig machen und Gewalt fördern. Letzteres hat meine Kindheit stark geprägt, weil zu jener Zeit in Erfurt und Emsdetten schreckliche Gewaltverbrechen von Jugendlichen verübt worden waren, ohne dass eine klare Motivation zu erkennen war. Geschlussfolgert wurde von allen Medien einstimmig, dass so betitelte «Killerspiele» dafür verantwortlich gewesen seien. Ich denke, stupider könnte diese Vorstellung kaum sein, aber wenn dieser Text mein vollumfängliches Ceterum Censeo zu Videospielen sein soll, so muss ich auch das ansprechen. Zwei Erinnerungen kommen mir da in den Sinn. In der ersten hat tatsächlich wieder Frau Braun den entscheidenden Auftritt. Ich spielte eines Septembermorgens mit einigen anderen Jungs im Kindergarten. In diesem Alter entstehen neue Realitäten quasi im Flug und man verändert diese mit jedem neuen Objekt, das man in die Hand bekommt, und lässt auch zu, dass sein Gegenüber diese Spielwelt dynamisch verändert. Mitten in einem besonders martialischen Spiel habe ich ausgerufen, ich werde den anderen schon noch bezwingen und als Geisel nach Hause tragen. Man darf sich ruhig über diese seltsam spezifische Phantasie wundern, aber meine vielen Kindergarten-Erinnerungen bezeugen mir, dass Kinder nun einmal so spielen. Manchmal arten solche Spiele aus und das ist ein wichtiger Moment in der Erziehung, um den Kindern die Grenze zwischen Spielphantasie und Realität aufzuzeigen, und welche Folgen unser Handeln für unsere Mitmenschen haben kann. Kurz, die Beziehung zwischen Spiel und Empathie. Das hat Frau Braun nach meinem gewaltlustigen Ausruf auch gemacht. Aber nicht etwa, weil ich im Begriff war, jemandem wehzutun – war ich nicht – oder weil man sowas nicht sagen sollte. Der Grund für ihre Empörung lag in den erst kürzlich verübten Flugzeug-Attentaten auf die USA. Diese hätten nämlich gezeigt, so Frau Braun, dass böse Menschen tatsächlich existieren und dass man deswegen sowas nicht spielen dürfe.

 

Bevor ich das kommentiere, möchte ich eine zweite Erinnerung anfügen, die mit Videospielen zu tun hat und den Standpunkt von Frau Braun vielleicht etwas stärken wird. Ich war 9, als ein neuer Star-Fox-Titel erschienen war. Fox, Falco, Slippy Toad & co griffen wieder zu ihren Waffen, um eine Bedrohung im All zu bekämpfen. Schon der Titel Star Fox Assault verhiess durchaus kriegerischen Inhalt. Einmal beaufsichtigte mich statt meiner Eltern meine Grossmutter für eine Woche. Das fiel mit der Phase zusammen, in der ich täglich Assault spielte. Meine Oma, Gott hab sie selig, war keineswegs davon begeistert. Sie war durch und durch vom Inhalt des Spiels empört und verbot mir an gewissen Tagen, daran weiterzuspielen. Vor meinem Freundeskreis, den ich an meinem zehnten Geburtstag zum Spielen um mich versammelt hatte, verkündete sie: «Das Spiel ist das Letzte!» – ein vorlauter Freund von mir reimte darauf «… aber das Beste». Die Haltung von meiner Grossmutter ist besser begründet als jene von Frau Braun. In ihrer frühesten Kindheit erlebte sie die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs. Sie war zwar in keiner Grossstadt, doch hatte man ihr gezeigt, dass sie bei jedem vorbeifliegenden Flugzeug ins Gebüsch springen müsse, um oben nicht aufzufallen. Diese reale Angst vor Flugzeugen begleitete sie als Trauma noch ihr ganzes Leben. Jedes Propellerflugzeug-Geräusch war folglich für sie unangenehm. Ein Videospiel wie eben Star Fox Assault, aus ihrer Perspektive gesehen, verniedlicht den Krieg, macht ihn attraktiv und spassig, obwohl die Flugzeuge darin so sehr einem echten Trauma ähneln.

 

Wie kann man solchen Einwänden begegnen? Ich frage einmal provokant: Zeugt mein martialisches Phantasiespiel im Kindergarten nicht davon, dass wir Gewalt von allein auf die Spielbühne bringen? Wird uns wirklich neue Gewalt von Medien vermittelt? Und in welchem Medium wird öfter ein Völkermord glorifiziert: in einem Videospiel mit sich kloppenden Fuchs-Menschen oder in Winnetou-Geschichten?

 

Absolut kein Medium war jemals unschuldig. Noch wurde echte Gewalt jemals durch ein Medium effektiv trivialisiert. Kriminalgeschichten trivialisieren nach dieser Logik ebenfalls Mord & Todschlag. Doch «ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett», das ist bekannt. Sogenannte «unerhörte Begebenheiten» sind der Motor vieler Erzählungen. Und Tabuthemen wie Gewalt machen eine Begebenheit umso unerhörter. Man bedenke auch, dass früher – oder je nach Gegend auch heute – echte Todesspiele zur Unterhaltung dienten in Form von Hahnen- und Stierkämpfen. Vergleichen wir doch Smash Bros, wo sich die virtuellen Helden bekämpfen, bis einer von ihnen vier Mal von der Arena gefallen ist, mit Stierkämpfen. Ich habe vorhin ausgeführt wie für mich Smash Bros zwischen den Zeilen eine Freundschaft zwischen den Helden ausdrückte. Dieses Brüderlichkeitsgefühl war auch ganz analog zur Freundschaft zu den anderen Kindern, mit denen ich spielte. Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Gewalt in Form des Kämpfens – das «Smash» in Smash Brothers – im Vordergrund steht. Doch würde einer dieser Avatare die Familie des anderen entführen und zur Einschüchterung des Gegners foltern oder gar ermorden? Natürlich nicht, aber genau das ist das Schicksal der Mutter eines Stiers, der wider Erwarten gegen einen Torero gewinnt.

 

Nein, kein Medium war je unschuldig, denn das gilt auch für Menschen. Dass wir immer wieder Gewalt in unseren erzählenden Medien wiederfinden, hat damit zu tun, dass sie eine Resonanz auslöst. Skandalwerke, wie sie es eh und je gegeben hat, sind dazu da, uns mit unseren Schattenseiten bekannt zu machen; uns zu zeigen, was der Mensch zu träumen imstande ist, also wir zu träumen imstande sind, denn wir träumen ja immer mit. Das bedeutet aber nicht, dass uns ein Skandalwerk Gewalt beibringt. Wäre der Inhalt in einem Phantasiewerk für uns wirklich fremdartig, so würden wir ganz anders reagieren. Ein Kind, das versehentlich mit Pornographie konfrontiert wird, reagiert verwirrt, vielleicht belustigt, aber vor allem teilnahmslos. Irgendetwas hallt in so einer Situation im Kind sicherlich wieder, aber nicht viel; dafür muss es noch älter werden. Ich denke, bei Videospielen können wir etwas Ähnliches beobachten: Was in uns Resonanz findet, das spielen wir gerne. Ich hätte jederzeit Pferdespiele, Simulationsspiele oder Tamagochis haben können, doch dafür war einfach kein Interesse da. Hingegen hatte spielerische Gewalt einen gewissen Reiz. Nur hätte diese Gewalt, wie eben beschrieben, nicht wirklich reale Gewalt sein dürfen, dieser Unterschied war mir unbewusst klar. Eine Lust an der simulierten Gewalt war für mich der Ausdruck einer in mir präsenten Gewalt. Ich betrachte es darum als sinnlos, Spiele und Phantasien – wie damals Frau Braun oder die deutschen Medien – nach dem Merkmal „Gewalt“ verbieten zu wollen. Hat man aufrichtige didaktische und beschützerische Absichten, muss man sich auf das spielende Kind und seine eigene Phantasiewelt im Detail einlassen.

 

Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Videospiel-Sucht. Diese Perspektive wird, wie eingangs erwähnt, viel und gern heraufbeschworen, um über Videospiele zu sprechen. Zwischen den spielesüchtigen Amokläufern und den Let’s-Play-Millionen könnte man sich durchaus fragen, ob hier eine Sucht-Epidemie um sich greift. Es stimmt ausserdem, dass die meisten Videospiel-Fans auch schon stundenlang am Stück gespielt haben, zum Teil durch die Nacht hindurch. Eltern versuchten stets, die Spielzeit zu begrenzen. Die maximale Spielzeit wurde oft von ihnen thematisiert und alle meine Freunde entwickelten hinterlistige Strategien, wie sie ihre Spielzeit maximieren konnten. Erst dann anfangen, wenn die Eltern tief beschäftigt sind, damit man immer sagen kann, man spiele erst seit zehn Minuten; oder am Wochenende ganz früh aufstehen, weil das die Eltern nicht können und man auf diese Weise gut und gerne zwei Stunden vor dem Frühstück spielen kann, ohne sein Tages-Kontingent anzurühren. Und so weiter. Eines Tages  war ich bei einem Freund von mir zu Besuch. Gemeinsam spielten wir ein Strategiespiel, in dem man statt menschliche Armeen mythologische Geschöpfe und Helden übers Spielfeld schickt. Aber oh, seine Mutter verbot uns, an diesem Nachmittag weiter am Computer zu sitzen. Soeben im Spiel vertieft gewesen mussten wir nun widerwillig den Spielstand speichern und den PC herunterfahren. Unschlüssig gingen wir in den geräumigen Dachboden, um irgend eine andere Beschäftigung zu finden. Nicht lange und wir bauten dann das eben gespielte Strategiespiel mit Objekten aus dem Dachboden einfach nach. Aus dem Fussboden wurde die Karte des Spiels, auf der sich Gebäude und die mythologischen Helden befanden. Wir nahmen Lego, Knex und andere dieser Bau-Sets her. Praktisch in Echtzeit bauten wir damit unsere jeweiligen Lager auf und expandierten über die phantasierte Boden-Karte. Mehr noch: Während das Computerspiel dem Spieler vorhersehbare, weil unselbstständige, Figuren gibt, die bis zum Sieg oder zur Niederlage kämpfen, dichteten wir in unserer eigenen Version ganze Geschichten zur geopolitischen Entwicklung unserer Phantasiereiche hinzu. Die Einheiten bekamen eine Agency in der Geschichte und wuchsen durch ihr Streben nach dem strategischen Sieg als Personen heran. Die Frage ist jetzt: Waren wir so sehr nach dem Spiel süchtig, dass wir es sogar mit Computerverbot weiterspielten? Oder stillten wir uns unser Verlangen nach Spiel und Phantasie mit jedem zur Verfügung stehenden Mittel? Welche Rolle kommt dann dem Mittel noch zu? Inwiefern hat sich unser Spiel – für uns und unsere Psyche – vom Spiel am Computer unterschieden? Und wie unterscheidet sich das überhaupt von Kindern, die draussen das nachspielen, was sie wahlweise in Kinderbüchern oder Filmen vermittelt bekamen? Ob Winnetou, Legolas oder Super Mario, wir schlüpften als Kinder gerne in die Avatare unserer Phantasiewelten, waren aber deswegen nicht in diesen Welten gefangen.

 

Ich denke, eine Sucht ist den Videospielen nicht inhärent. Anders als bei körperlichen Abhängigkeiten, kann eine Sucht alles Mögliche betreffen. Es ist darum schwer, zwischen einer grossen Leidenschaft für eine Sache und eine Sucht zu unterscheiden. Gerne wird von Psychologie-Fachkräften auf das Verhalten verwiesen: Wenn eine Sache die normalen Prioritäten ausser Kraft setzt und überhandnimmt, wenn die Noten leiden und dergleichen. Doch hat so eine oberflächliche Betrachtung ohne Introspektion enorme Schwächen: Was sind denn die «normalen Prioritäten» eines Kindes? Sein schulischer Erfolg für seinen späteren Werdegang und Erfolgsaussichten sind rein anerzogen und hoffentlich nicht schon im Kindergarten-Sandkasten eine Priorität. Körperlich wie mental sind Kinder unermüdlich. Uns Erwachsene straft der Körper sofort bei zu wenig Bewegung und zu viel Sitzen. Nein, ein Kind mit beinahe bürokratischer Psychologie verstehen zu wollen ist ein lächerliches Unterfangen. Nur hilft uns das nicht weiter nach der Frage: Wo endet die Videospiel-Leidenschaft und wo beginnt diese sagenumwobene Sucht?

 

Ich habe bisher aufgezeigt, wie Videospiele für mich eine Leidenschaft waren; wie sie mein kindliches Verlangen nach unendlichen Phantasiewelten gestillt haben; wie sie einen starken sozialen Aspekt hatten und wie dieser soziale Aspekt auch in späteren Lebensphasen noch aktiv ist. Doch wenn etwas perfekt zu unseren emotionalen Grundbedürfnissen passt und auch noch einen sozialen Aspekt besitzt, dann liegt der Vergleich zu Drogen nicht weit. Die moderne Unterhaltungsindustrie wirkt häufig wie eine telemedial konsumierbare Droge. Diese Beobachtung liegt allen Werken von David Foster Wallace zugrunde. Ellenlang schreibt er über TV-Konsum und seine affektiven Wurzeln, noch länger ist sein Text über die Porno-Industrie und ihre Abgründe und sein – in deutscher Übersetzung – 1’500-seitiger Roman Infinite Jest dreht sich um einen Film, das sogenannte «Entertainment», das so perfekt ist, dass jeder Mensch beim Ansehen all seine Grundbedürfnisse missachtet und schlussendlich elendig vorm Bildschirm verendet. Wallaces Angst begründet sich in seiner eigenen Fernsehsucht. Einmal schimpfte er darüber, dass man ihn als den Drogen-Autor kannte und Gerüchte verbreitete, er sei heroinabhängig gewesen. «Meine primäre Sucht galt schon immer und gilt immer noch dem Fernsehen», betonte er. Die Sucht erklärt er sich so, dass die meisten Amerikaner zutiefst ausgebeutete Leben führen, in denen die Arbeit und die langen Autofahrten dorthin und zurück, praktisch das ganze Leben füllen. Feiertage und Ferientage gibt es dort sehr wenige. Das Fernsehen erlaubt es, in relativ wenig Zeit eine Illusion von einer perfekten Welt zu geniessen. Man kann sich an den Bildern freuen und so ein wenig daran teilhaben. Das Fernsehen ist und bleibt in so einer Konstellation der einzige Zugang zu dieser Welt und so macht man sich auf dem Sofa vom Fernsehen abhängig.

 

Ein zurecht wenig beachtetes Video hat mir in diesem Zusammenhang immer imponiert: I am a gamer. Ein junger Mann schimpft in diesem Video, wie man von ihm erwartet, Videospiele beiseite zu legen und in ein echtes Leben zu führen. Im echten Leben sieht er aber nur «ein schlichtes Reihenhaus und meinen weissen Lattenzaun», also ein unpersönliches und belangloses Leben. Die Spielwelt hingegen stellt er dar – noch viel enthusiastischer als ich – als eine Welt, wo er nacheinander Raumschiff-Kapitän, Wikinger und Elitesoldat sein kann. Er schwärmt davon, dass er sich in Schriften und komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge einarbeiten muss, bevor er zu Heldentaten schreitet. Ganz klar, es ist ein trauriges Video. Sollte er es ernst gemeint haben, so zeigt sich darin, dass er sich mit der Phantasie überidentifiziert. Er verleugnet, dass Computerspiele Phantasien sind; dass er sich in keine Sprache oder sonst eine echte komplexe Fähigkeit eingearbeitet hat. Videospiele kürzen so etwas ab, stellen andere, überschaubarere Aufgaben an diese Stelle. Man darf ihre Erzählungen nicht für bare Münze nehmen. Aus diesen Worten trieft ausserdem Verzweiflung. Und Angst vor einem gänzlich sinnlosen Suburbia-Leben. Weniger als einen schädlichen Einfluss von Videospielen sehe ich hier einen zutiefst verunsicherten jungen Mann, der mit den trostlosen Aspekten des Lebens hadert und umso mehr die Flucht in die Phantasie sucht. Hier würde ich von einer Sucht sprechen. Sucht als Suche nach Sinn mit nur einem möglichen Fundort.

 

Die Rolle von Spielen in unserem Leben ist also entscheidend. Wenn Videospiele unser Leben nur erweitern, wir aber andernorts bereits Freude, Phantasien und Lebenssinn kennen, so sehe ich die Sache unkritisch. Es ist traurigerweise aber so, dass viele Menschen ein tristes Leben führen. An vielen Orten herrscht eine Gewaltkultur, die schon in jungen Jahren gepflegt wird. Mobbing wird dort verharmlost, geduldet, bisweilen von den Erwachsenen akzeptiert und sogar vorgelebt. Der Mensch war schon immer des Menschen ärgster Feind. Der sogenannte Eskapismus flüchtet häufig zurecht vor der äusseren Welt. Eskapismus gab es allerdings schon immer und Videospiele sind nur ein moderner Ort, an den man jetzt flüchten kann. Früher waren es Verschwörungstheorien, elaborierte Rollenspiele oder sektenartige Gruppen. Es ist bei Videospielen halt ein treffender Zufall, dass die Konsole so genannt wird. Das Wort entstammt dem französischen «Consolateur», was ein Unterstützer und Träger, aber auch ein Tröster war. Eine Konsole stützt den Rechenaufwand der Spiele, aber wichtiger noch: Die Konsole vermag die Spielenden zu trösten.

 

Es fällt mir immer wieder schwer, Videospiele vor Kritik zu verteidigen. Allen voran natürlich, weil die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was gute Kunst und Kultur ist, sehr festgefahren sind und relativ wenig Menschen selbstkritisch reflektieren, was Kunst für sie ausmacht, worin künstlerische Komplexität bestehen kann und woher ihre Annahmen über Medien und Kunstformen kommen. Die Verteidigung von Videospielen fällt mir vor allem deswegen nicht leicht, weil es dabei um sehr persönliche Gefühle geht, die darüber hinaus unendlich komplex sind. Wir alle wachsen heran und finden uns in einer verwirrenden und häufig enttäuschenden Welt vor. Die Erfahrung, Mensch zu sein, ist paradoxerweise ziemlich unmenschlich. Menschen misstrauen einander und sie misstrauen den jüngeren Mitmenschen. Phantasie ist dem Menschen angeboren und durch Erzählungen wird sie gefördert, genährt und geformt. Angeboren ist nämlich der Wunsch, Unmögliches möglich zu machen. Unsere Phantasie ist ein Mittel zu diesem Zweck und ist darum unentbehrlich. Eine gesunde Psyche hat gesunde Phantasien. Alle Menschen entwickeln darum ihre Kulturformen. Weil es aber so schwierig ist, diese zu begründen und zu rechtfertigen, gibt sich der Mensch mit apodiktischen Aussagen zufrieden: Bücher sind nun einmal besser als die Glotze. Klassische Literatur besser als dieser moderne Schund. Wobei diese sogenannten Klassiker auch damals missfielen, da sie nicht mehr aufklärerisch waren. Und die Aufklärung war ja sowieso eine Laune der rebellischen Jugend. Und immer so weiter.

 

Ich habe in diesem Text versucht, diesen argwöhnischen Vorurteilen, wie sie die Videospiele unweigerlich treffen mussten, mit einem möglichst breiten Korpus an Vergleichswerken zu begegnen. Ich hoffe, dass diese Vergleiche einleuchtend waren und die universellen Aspekte von Videospielen illustrieren konnten. Wenn ich erfolgreich war, sollte ich den folgenden Appell gar nicht mehr aussprechen müssen: In einer Zeit von so starkem medialen Wandel ist es natürlich, dass die Angewohnheit des Lesens schwindet. Natürlich schwindet damit die Bekanntheit von wichtigen literarischen Werken, was schade ist. Aber tun wir nicht so, als ob gleich ein Teil der Menschheit damit untergehen würde. Tun wir nicht so, als ob in den neuen Medien keine genau so reiche Phantasie gelebt werden kann. Tun wir stattdessen unseren jungen Mitmenschen einen Dienst und erkennen stets ihre Phantasien empathisch an. Unterstützen und trösten wir sie mit Konsolen. Lasst uns mit ihnen spielen! Wir haben nichts damit zu verlieren!

“Kämpfende Kühe” von Franz Marc

Vorwort: Ich muss erklären, dass dieser Text kaum ein Zielpublikum hat. Auf der einen Seite bin ich von jungen Menschen umgeben, die die poetische Macht der Videospiele nie infrage stellen würden. Meine besten Freunde setzen sich beruflich seriös mit Videospielen als narrativen Kunstwerken auseinander und müssen darum nicht erst von meinen Thesen überzeugt werden. Auf der anderen Seite begegne ich nach wie vor starkem Kultur-Pessimismus gegenüber Videospielen. Erst kürzlich hörte ich einen Vater seinen Sohn in dessen Abwesenheit(!) als «Junkie» bezeichnen, weil er sich so sehr beim Spielen verliert und das täglich. Es schmerzt mich, solche Vorwürfe zu hören, weil ich weiss, wie schön das Spielen im jungen Alter ist und wie sehr solche Vorwürfe wehtun können. Als Germanist und Anglist sehe ich mich verpflichtet, die universelle Erfahrung, die sich heutzutage in den Videospielen äussert, zu verteidigen. Meine Alterskohorte muss ich nicht, andere kann ich nicht überzeugen. Versuchen werde ich es trotzdem.

 

Ich will eingangs von einem kleinen Kindheitstrauma erzählen, das meine Sicht auf Kunst geprägt hat. Mein Kindergarten gab uns täglich Mandalas zum Ausmalen. Laut Wikipedia ist ein Mandala «…ein figurales oder in der Form des Yantra aufgebautes geometrisches Schaubild, das im Hinduismus und Buddhismus in der Kultpraxis eine magische oder religiöse Bedeutung besitzt.» Mandalas sind eigentlich, um sie visuell grob zu charakterisieren, filigrane und psychedelisch anmutende Muster. Unsere Mandalas hatten am katholischen Kindergarten keine religiöse, geschweige denn psychedelische Bedeutung. Sie hielten uns  hyperaktive Kinder einfach lange beschäftigt, weil das Ausmalen der vielen verwinkelten Muster eines Mandalas seine Zeit braucht. Die Erzieherinnen am Kindergarten warben mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen der Mandalas. Manche Mandalas waren nur für die besonders geschickten Kinder oder für die älteren Klassenstufen. Und ich muss zugeben, ein ausgemaltes Mandala, in dem sich die geometrische Konstellation in der Farbenkombination niederschlägt, das ist schon ein netter Augenschmaus.

Doch diese psychedelische Farbenpracht kollidierte einmal mit der erzieherischen Strenge einer Kindergärtnerin (beim Schreiben rutscht mir immer wieder das Wort «Aufseherin» raus, das ich dann nur widerwillig streiche). Wir Kinder sassen dereinst an unseren Mandalas, wie jeden Tag eigentlich, nur dass Ostern vor der Tür stand und die Mandalas saisongerecht Ostermotive beinhalteten. Bunte Ostereier mit Mustern-im-Muster, diese wiederum in üppigen Ostereier-Nestern, die ihrerseits Kreise-im-Mandalakreis waren, und so weiter. Wie mein Mandala an dem Tag aussah, weiss ich nicht mehr im Detail; nur, dass es vier gleiche Segmente hatte, in deren Mitte je ein Osterhase war. Ich stand damit vor einer künstlerischen Entscheidung, deren Konsequenzen ich noch nicht erahnte. Nämlich ob die Hasen realistisch in brauner Farbe einzufärben waren oder in psychedelischer Façon mit verschiedenen, hasen-untypischen Farben. Ich dachte zunächst nicht darüber nach und entschied mich beim obersten Hasen für dunkelblau. Besagte Kindergärtnerin schritt derweil durch die Gänge zwischen den gleichförmigen Tischen, an denen jeweils vier Kinder still vornübergebeugt die repetitiven Muster einfärbten. Ihr Blick streifte wie ein Suchscheinwerfer über die Tische und schimpfte hier und da wegen einem falsch einsortierten Farbstift oder unsauberer Farbarbeit. Als sie hinter meinen Rücken vorbeikam, bezichtigte sie mich forsch: «Calos, wo host du scho an blaun Hasn gseng?!»

 

 

Ihr Name war übrigens Frau Braun. Man kann jetzt lang und breit die farblich normative Kunstauffassung Frau Brauns kritisieren. Und das hatte ich auch vor. Ich will mich aber auf einige Kernpunkte begrenzen: 1. Kunst kann, aber muss eben nicht, unsere Erfahrungen 1:1 wiederspiegeln, 2. der artistische Kontext, also die psychedelische Natur der Mandalas, entbindet uns von jeglicher Pflicht zum Realismus, 3. Authentische hinduistische Mandalas sind immer realitätsfern; ihre inhärente Logik hat wenig mit Realismus zu tun, sehr wohl aber mit Symmetrie bei gleichzeitigem farblichen Kontrast. Und überhaupt, der theologisch sicher interessante Ansatz, Ostermotive durch den Exotismus-Fleischwolf zu jagen und das Resultat von Kindern einfärben zu lassen, ist bereits gewissermassen realitätsfremd. Doch der wichtigste Punkt ist für mich: 4. Ich hatte schon häufig bunte Tiere gesehen. Und nicht nur in Kunstgallerien, wo man sie erwarten würde. Also dort auch; ich war als Kind ein grosser Fan von Franz Marc und seinen so prächtig-eindrucksvollen wie niedlichen Tierdarstellungen gewesen («Das blaue Pferd», «Die gelbe Kuh», «Die grünen Gämse» uvm.). So wie Franz Marcs «Kämpfende Kühe» nicht alle drei dieselbe Farbe haben können, so wäre es für mich damals kontraintuitiv gewesen, ganze vier ansonsten gleichförmige Hasen einfach nur braun einzufärben. Aber Franz Marc war dabei nicht allein für diese Intuition verantwortlich, sondern meine Videospiele. Wenn man in Smash Bros für die Nintendo 64 mit einem Freund zusammenspielt und sich beide für den Gorillakämpfer Donkey Kong entscheiden, was passiert dann? Nur einer kann original braun sein (Donkey Kong ist braun, obschon echte Gorillas schwarz sind). Der andere wird wahlweise grau, blau oder rot. Link ist wohlbekannt als der Held in grün. Doch als Avatar ist er selbstverständlich replizierbar und das durchaus auch in seiner Gegenfarbe rot. Avatare – so wie Mandalas ursprünglich aus dem Hinduismus – haben meine Kunstauffassung also früh geprägt. Das bezeugt diese Kindheitserinnerung, in der ich eine Farbenlogik aus einem Videospiel in einen andere künstlerischen Kontext übertragen hatte. Ich möchte in diesem Text erzählen, wie Videospiele für mich weit mehr als Unterhaltung oder gar eine Sucht waren; sie waren nichts Geringeres als ein bunter Ort voller Formen und Möglichkeiten, aber auch von Herausforderungen und schier unendlichen Neuinterpretationen der mir bekannten Welt. Videospiele waren Inspiration in Reinform. Ich möchte zeigen, wie ich in Videospielen frühe und prägende poetische Erfahrungen machte, die in meiner Kunstauffassung und überhaupt in meinem gesamten Innenleben bis heute nachhallen.

 

Videospiele sind nicht nur Unterhaltung. Das wirkt jetzt vielleicht überraschend und wie eine gewagte These, weil diese simple Beobachtung den gängigen Vorstellungen widerspricht. Damit meine ich die typische Darstellung von Videospielen in Filmen: Ein emotional abwesendes Kind sitzt allein da und aus einem Kasten kommt lautes Gewirr von Explosionen und synthetischen Missklängen. Das Kind aus dem Spiel zu holen ist unmöglich, es ist zur Gänze unterhalten und eingenommen; ausserdem wirkt sein Charakter durch diese Abwesenheit oder wahlweise auch durch Wutausbrüche schon unumkehrbar entfremdet und verdorben. Hier habt ihr es zuerst gesehen: Das Abendland geht wieder einmal unter. Diesmal dank Videospielen.

 

Ich denke, hinter dieser Darstellung steckt nicht die Entfremdung des Kindes, sondern die Entfernung zum Kind. Das Kind isoliert sich nicht selbst, die Eltern halten sich nur fern von den neumodischen Kinderaktivitäten. Über diese Distanz kommt nur alles Laute und Unangenehme bis zu ihnen rüber. Wenn der Fernseher zu laut eingestellt ist, etwa, oder das Kind vor lauter Frust über eine schwierige Stelle im Spiel laut wird. In stillen Momenten, aber, verschwindet das spielende Kind aus der elterlichen Wahrnehmung. Es fällt nicht mehr auf, wenn es gerade still einen langen Monolog über die Unterdrückung durch den bösen König liest oder einfach nur die weite Welt seines Spiels erkundet. Weil solche Momente nicht registriert werden, entgeht den meisten Erziehungsberechtigten, dass Videospiele auch leise und poetisch sein können; so auch, dass die Emotionen bei den Spielenden die volle Bandbreite einnehmen können. Nicht nur Anstrengung, Frust und Action – auch Neugier, Verwunderung und Anmut – letztere Stimmungen sind delikat und leise; und sie fallen nicht auf.

 

Sind alle diese unterschiedlichen Spielmomente aber stets unterhaltsam? Ich denke nicht; ich denke auch, dass das selbstverständlich ist. Geschichten sind ja grösstenteils ebenfalls unterhaltsam. Und trotzdem sind sie das nicht durchgängig. Eine Abenteuererzählung von einer langen Schiffsreise erzeugt das Hauptinteresse natürlich mit einem Schatz oder einem anderen weit entfernten Ziel. Was wäre so eine Geschichte aber ohne Schilderung des weiten – mal blauen, mal grauen – Meeres? Das Wasser ist mal voller Wellen und Antrieb, mal ist es melancholisch ruhig. Stürme und Lebensgefahr gehören zu einer Geschichte genauso wie stille Kontemplation. Ferner, selbst wenn sich ein solcher Text nicht in langatmiger Kontemplation verlieren sollte, die angeregte Leserschaft wird das dann von alleine tun. Das dünne Buch «Die Reise auf der Morgenröte» von C.S. Lewis war für mich unendlich schön, immer wieder tagträumte ich vom Schiff, von den mythischen Inseln, von dieser weiten weiten Phantasiewelt.

 

Mit Videospielen verhält es sich genau gleich. Die schönen Steppen von Zeldaspielen durchstreifte ich oft ohne konkretes Ziel. Mit Zielfernrohren in Kriegsspielen schaute ich immer wieder auf den Boden, um das sanfte Wippen von Grashalmen und die Textur der Erde im Detail zu mustern, ganz wie Karl May, der vor einer Schlacht zuerst die Vegetation einer Steppe ausgiebig beschreibt. In Videospielen bin ich damit auch nicht alleine. In seinem Experimentalfilm Rehearsals for Retirement verarbeitet der Filmemacher Phil Solomon seine Erfahrung mit dem Klassiker Grand Theft Auto (GTA). Der Film kommt nachdenklich und atmosphärisch daher. Wie ein lethargischer Kunstfilm sieht man lange Einstellungen von leeren Landschaften. Nur durch den Kontrast von diesen Landschaften und darauf folgenden Nahaufnahmen winziger Details entsteht ein gewisser Bild-Rhythmus, ja sowas wie eine Erzählung… allein bei der Beschreibung klingt man wie ein Kunst-Schnösel. Der Clou dabei ist: Die Einstellungen entstammen allesamt den GTA-Spielen. Das wirkt zunächst wie ein Widerspruch: Diese Spiele sind nämlich kontrovers. Sie schmücken sich schamlos mit Gangster-Ästhetik, machen es einem spielend einfach, schwer kriminell zu sein, und eine Strassenschiesserei folgt dort auf die nächste. Wenn man um die blutige Geschichte der US-amerikanischen Ghettos weiss, wirkt der Erfolg der GTA-Serie wie ein schlechter Scherz. Wenn man danach bedenkt, wie im 19. Jahrhundert die Misere des Londoner Proletariats, die nebeltreibende Umweltverschmutzung und blutige Gräueltaten wie jene von Jack dem Ripper die Inspiration für, unter anderem, Sherlock-Holmes-Geschichten boten, so wirkt auch GTA nicht mehr abwegig. Abwegig ist es dann auch nicht mehr, dass man sich beim Spielen in der Kulisse verliert und meditativ die artifizielle Welt durchstreift; ganz wie ein Krimileser, der das Buch auf dem Brustkorb ruhen lässt und langsam die Gedanken im Londoner Smog verlierend eindöst.

 

Videospiele sind dadurch unendlich. Man kann sie nicht nur immer wieder sondern auch immer genauer spielen. Manche Orte oder Elemente entstehen auch durch Zufallsgeneratoren, sodass man durch ständiges Wiederholen entdecken kann, was der Zufall alles erschaffen kann – ähnlich wie Künstler in der Frühromantik, die ewig lang in die fraktal-gleichen Muster von Moos starrten, fasziniert von der Unendlichkeit. Jede Videospiel-Welt trägt auch eine Unendlichkeit in sich. So entdeckte ich beispielsweise in einem Rennspiel, wie ich aus der vorgesehenen Bahn hinausspringen konnte. Was davor beim Spielen wie eine komplette Landschaft ausgesehen hatte, zeigte sich hinter den Schranken als kontextloses Stück Strasse inmitten einer unendlichen Leere. Ich fuhr gen Horizont aber fiel schon einige Meter neben der Strasse unendlich tief hinab. Die Strasse und die Landschaft wurden über mir immer kleiner und unter mir sah man in allen Richtungen dasselbe hellrote Dämmerlicht. Diese Unendlichkeit faszinierte mich, obwohl darauf nichts wirklich geschah. Ich hatte die mir bekannten Schranken der Welt durchbrochen und war in den Äther gefallen. Das war cool. Und faszinierend.

 

Unendlich schienen Videospiele auch dank ihrer quasi psychedelischen Erzählweise. Ein anderes Wort als psychedelisch fällt mir da einfach nicht ein; ganz besonders bei Super Mario. Wie soll man denn sonst eine Geschichte nennen, die von einem italienischen Klempner handelt, der eine Prinzessin vor einer dämonischen Schildkröte retten will, aber zuerst die Kraft-Sterne in den Welten sammeln muss, die er via die vielen Gemälden des Schlosses erreicht? Ohne jeglichen Kontext klingt die Reise durch Gemälde nach Alice im Wunderland. Die Prinzessin und die böse Echse klingen nach Märchenelementen und der italienische Klempner wie etwa eine ironische Modernisierung des tapferen Schneiderleins. Lewis Carroll, der Autor von Alice im Wunderland, litt an schweren Migränen, weswegen man ihm nachsagt, er habe in diesen qualvollen Migräne-Anfällen die Inspiration für seine Werke gefunden. Tatsächlich benannte er einen seiner weniger bekannten Texte Die Jagd auf den Schnatz – Eine Agonie in acht Anfällen. Für mich ist dieser Text stellenweise ein Videospiel avant la lettre, denn er nimmt ihre Erzählweise unter einigen Gesichtspunkten vorweg. Zum einen behilft sich das Jagdteam in der Erzählung mit einer Ozeankarte, die nur und ausschliesslich den Ozean zeigt. Sprich, sie ist vollkommen leer. Ähnlich wie diese weisse Karte kriegt jeder Held in Videospielen schon am Anfang die Möglichkeit gezeigt, sich in Spielwelt kartographisch zu orientieren. Doch müssen diese Karten meist erst befüllt werden: Erst wenn man einen Ort besucht hat, ist er auch auf der Karte verzeichnet. Anfangs sind die Karten typischerweise leer. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der Jagd auf den Schnatz und Videospielen wäre da die irre Assemblage von Figuren. Die Jagd auf den Schnatz wird von einem achtköpfigen Team bestritten: von einem Glöckner, einem Helmschmied, einem Anwalt, einem Billard-Schiedsrichter, einem Banker, einem Börsenhändler, einem Bäcker und einem Biber. Genauso selbstverständlich fliegen wir in Star-Fox-Spielen los begleitet von einem sarkastischen Falken namens Falco, einem altmodischen Esel namens Peppy und einer vorlauten Kröte namens Slippy Toad; die Befehle kommen von oben, also von einem Hund in Uniform namens General Pepper. Psychedelische Erzählweise ist unheimlich kombinierfreudig, weswegen jede erdenkliche Assemblage von Figuren irgendwie sinnvoll werden kann. Psychedelisches Erzählen, egal wie ironisch oder willkürlich es anmutet, muss keine Farce sein. Den acht Anfällen von Carroll haftet durchwegs eine Dringlichkeit an.

 

Auch für Spiele ist der Ernst essentiell. Sigmund Freud schreibt, dass das Gegenteil von Spielen nicht Ernst sei – wie man naiv annehmen könnte – sondern die Wirklichkeit. Das Spiel ist laut ihm also eine ernstzunehmende Unwirklichkeit. Die Jagd auf den Schnatz wird von einer Warnung begleitet, die ab und an fällt: Der Schnatz ist ein Boojum! Das ist eine kryptische, aber stets bedrohliche Aussage: Das Jagd-Team horcht auf, wird nervös, fürchtet um sein Leben! Der Schnatz ist wirklich ein Boojum! Rezipiert man Carrolls Geschichten wie ein Kind, muss man einen Boojum aufgrund der blossen Warnung fürchten. Denn als Kind bringt man das volle Selbstverständnis mit, dass die Schnatzjagd und Alices Wunderland trotz eigenwilliger Präsentation und fehlendem Realitätsbezug dennoch ernst sind. Genauso ist es für die Spielerschaft erstaunlich, wenn wir in Super Mario 64 erfahren, dass Bowser eigentlich ein Koopa ist. Die Konsequenz dieser Feststellung ist weniger wichtig. Es hat einfach genau dieselbe Selbstverständlichkeit wie die Warnung bei Lewis Carrol: Der Schnatz ist ein Boojum! Eine Behauptung von Dringlichkeit wird in den Raum gestellt. Und dadurch entsteht Dringlichkeit. Wie ein Zauberspruch: Auf Worte folgen Tatsachen. Die dafür nötige Magie ist unsere eigene Kreativität. Kreativität ist wiederum, wie gesagt, eine ernste Angelegenheit. Carrolls sogenannte Nonsens-Dichtung, wie sie in der Forschung üblicherweise genannt wird, und Nintendos Wunderwelten sind verspielt in der Namenswahl und Zusammenstellung der Elemente, doch sind sie keine Farce. Sie bieten Kindern eine neuartige und stellenweise unendliche Fläche, um dort ihr wildes, phantastisches und horizonterweiterndes Spiel auszutragen.

 

Ich bin nicht der erste, der das Psychedelische an Nintendo-Spielen beobachtet. Der amerikanische Komiker Conan O’Brien versuchte sich an verschiedenen Videospielen und hatte Folgendes über Nintendo zu sagen: «Jeder Nintendo-Angestellte ist offensichtlich auf LSD. […] Ich wüsste gerne, welche Ideen es dort nicht schaffen und von Nintendo aussortiert werden. ‘Er heisst Jib-Jab! Er ist ein Blib-blorb! Er geht nach Gimbar!’», äfft er einen besinnungslosen Nintendo-Creative nach. In einem Podcast wird er gefragt, was sein Lieblings-Pokémon ist, worauf er ohne zu zögern ein Dutzend Pokémon erfindet: «Shaikadu! Sieht aus wie eine Wassermelone und hat vier Augen», oder «Rowkopoo! Das ist eine Zahnbürste aus Russland. Sie trägt einen Tweed-Anzug» oder auch «Goglihu. Eine Kuh, die nach Hause kommt und wie ein Astronaut gekleidet ist.» – O’Brien teilt meine Begeisterung für Videospiele leider nicht. Damit steht er auch nicht alleine. Er missachtet auch, dass Pokémon keine Nonsens-Namen tragen, sondern dass sie und ihre Namen vielmehr anhand heterogener Wort-Bezüge gebildet werden. Hier greift eher die vorhin erwähnte Assemblage-Technik als die des selbsterklärenden Nonsens. Trotzdem offenbaren seine Scherze, dass Nintendos Werke unsere Welt neu anordnen; eine Fähigkeit, die in vormodernen Zeiten Orakeln, Propheten und dichtenden Stimmen zuteil kam, sowie Gauklern und Clowns. Also an der Peripherie des menschlichen Intellekts angesiedelte Künstler.

 

Ähnlich wie solche Menschen sprechen auch Videospiele die starke Phantasie von Kindern an und fördern sie. Heutzutage ist das noch nicht genug kommentiert worden. Das japanische Videospiel-Unternehmen Sega war sich dessen durchaus bewusst und nannte seine letzte Konsole «Dreamcast». Auch Nintendo inszenierte sich als Ort der Phantasie. Die Intro-Sequenz von Smash Bros 64 zeigt ein Kinderzimmer, durch das eine Hand schwebt. Sie greift zielsicher in eine Kiste und holt eine Mario-Figur heraus. Die Hand wirft die Figur auf einen Schreibtisch und rückt dann verschiedene Gegenstände dort zurecht. Ein Stapel Bücher und eine Lampe grenzen eine Fläche ein, eine Pikachu-Puppe wird auf die eben gebildete Fläche gegenüber von Mario platziert und eine Box von Taschentüchern bildet ein Hindernis zwischen den beiden. Die Hand zählt mit ihren Fingern von 3 herab und aufs Kommando erhebt sich Mario. Ihm wurde Leben eingehaucht und er ist sofort zum Kämpfen bereit. Das ist eine wahnsinnig bedeutungsschwangere Sequenz. Mario ist wie ein Schatz in seiner Truhe, die Meisterhand erinnert an einen Marionettenspieler, was wiederum eine Metapher für den Schöpfer einer Erzählwelt ist (Geschichtenerzähler als gottgleiche Figur) und natürlich: Der Moment des Erwachens ist der Übergang in die Phantasie, ins Wunderland. Die angeordneten Dinge sind nicht mehr sich selbst, sondern etwas Aufregenderes, Höheres, das dennoch ihrer eigentlichen Form gleicht – ganz wie im Zauberer von Oz. Aus der Lampe wurde ein Schlossturm und aus dem Bücherstapel die Mauer einer mittelalterlichen Arena. Und mit Mario als heroischen Avatar kann ich nicht anders, als diesen Schritt in die Spielwelt hinein mit dem Betreten von Narnia oder mit der Romantik zu vergleichen. Wie das Anschalten einer Konsole aus dem grauen Alltag all diese Abenteuer und Gefühle erweckt, das weckt in mir dasselbe Gefühl wie Eichendorffs Wünschelrute: «Es lebt ein Lied in allen Dingen / Die da träumen fort und fort / Und die Welt hebt an zu singen / Triffst du nur das Zauberwort» – das sollte beim Starten einer Konsole immer genau so ertönen. Oder eben: Die Welt hebt an zu spielen. Same difference.

 

Romantik sehe ich auch in Folgendem Beispiel: Immer wieder liest man im Internet, wie melancholische junge Erwachsene in ihre alten Minecraft-Welten zurückkehren. Sie schreiben von ihren damals errichteten Gebäuden, beziehungsweise wie diese jetzt leerstehen. Sie phantasieren davon, wie die Tage in dieser Welt monoton und leer weitergegangen sind. Es erhoben sich tausend Tage und schliefen dann in tausend Nächten wieder ein. Ihre Gebäude wurden zu Ruinen einer vergangenen Zivilisation. Was diese Leute da heraufbeschwören ist voller Nostalgie, Sehnsucht und Selbstfindungslust; kurz: Es ist pure Romantik. Zum einen sind die virtuellen Orte in Minecraft wie das Hotel im kindlichen Sommerurlaub: Ein verloren gegangener Ort, der rückwirkend magisch erscheint und in dem man jetzt viel Sehnsucht und Melancholie hineinprojizieren kann. Doch der Zusatz, dass diese Spieler phantasieren, wie die Minecraft-Welt jahrhundertelang weiterging, ihre Bauten zu kolossalen Ruinen der vergangenen Welt wurden, das übersteigt die Sommerhotel-Nostalgie um einiges. Darin zeigen sich ähnliche Leidenschaften wie hinter romantischen Texten à la Ozymandias. Ein Reisender aus antikem Lande berichtet da von einem gigantischen Königsdenkmal, das mit grenzenloser Macht prahlt, die jener König offensichtlich verlor, da um seine Statue herum nur noch eine leere Wüstenlandschaft gähnt. Die vergangene Macht und die beeindruckenden Bauwerke, die dort gestanden haben müssen, erwecken in mir dasselbe Gefühl wie Gedanken über vergangene Minecraft-Welten. «Der Mensch kommt, der Mensch geht, ohne weiteren Grund», singt Manu Chao. Die Orte, die der Mensch dabei hinterlässt, sind hinterher Mahnmale seiner Vergänglichkeit, also Sterblichkeit. Die Kinder der Videospiel-Generationen erfahren dieses Memento-Mori-Gefühl virtuell, aber nicht weniger real.

 

Weil Spiele so ernst sind, so sind es auch die Emotionen dabei. Ich spüre das in den Kommentaren zu Videospiel-Musik. Sie hat, ähnlich wie Filmmusik, eine enge Beziehung zu ihrem Begleitmedium und steht niemals alleine, auch dann nicht, wenn wir sie alleine hören. Hören wir die Film- oder Videospiel-Musik, hören wir direkt unseren emotionalen Bezug zum Spiel. Und was erzählen uns die Menschen im Internet, wenn sie die Musik der Wasserlevel in Super Mario 64 kommentieren: Dass es wie ein Samstagmorgen in 1996 klingt, dass es nach einer sorgenlosen Zeit klingt, dass es sie an ihre Kindheitsfreunde erinnert werden und bisweilen dass sie ganz doll weinen müssen. Ich habe den Versuch gemacht und dieselbe Melodie einem Freund gezeigt, der das Spiel nie gespielt hat. Obwohl ich sie wunderschön finde und davon ausging, dass sie darum auch für sich alleine stehen kann, kam bei ihm keine Reaktion auf. Der Hörgenuss speist sich wohl ausschliesslich aus den Emotionen des Spielerlebnisses.

 

Die Gefühle beim Spielen sind aber intrikater noch als einfache Rührseligkeit. Ich möchte von einer Musik erzählen, die für mich alles ist. Es ist ein Mashup von Together We Ride, einem Lied aus Fire Emblem, und dem Hauptthema der FireEmblem-Spielserie. Kennengelernt habe ich diese zwei Lieder aber als eines, in dem das erste und letzte Drittel von «Together We Ride» sind und der Mittelteil jenem Hauptthema entnommen ist. Besagtes Mashup erklingt in Super Smash Bros Melee, wenn man mit einer der Fire-Emblem-Figuren, Roy oder Marth, den Story Mode gewinnt. Ich habe immer mit dem kühnen Prinzen Roy gespielt. Ein jugendlich hübsches Aussehen, eine kitschig-prächtige Rüstung, wilde rote Haare, ein Heldentenor, ein feuerspeiendes Schwert. Der war einfach cool. So, wie ein Recke zu sein hat. Und wenn ich die Musik höre, eröffnet sich mir eine ganze Gefühlswelt. Der erste, feurige Teil singt von erpichten Kämpfen, grosser Anstrengung, flammenden Explosionen und Siegen. Wenn das erste Drittel dann vorbei ist und das nachdenkliche Klavier einstimmt, gesellt sich einiges an Wehmut hinzu. Doch es ist eine affektierte, leicht gestelzte Wehmut, die das Heldenhafte nur steigert. Wenn dann das Schlagzeug einen Marsch-Rhythmus vorgibt und die Synth prächtig zu singen anhebt, wird aus der Melancholie eine brüderliche Feierlichkeit. Das Lied wird zu einem quasi universellen Ethos der Brüderlichkeit erhoben, eine Art zu sagen «Ja, es ist hart und unerbittlich, so ein Held zu sein, aber es ist dadurch auch wunderschön». So kitschig wie das klingen muss, so spiegelt es meine Sicht auf Roy wieder als bewundernswerten Märchenheld. Ausserdem zeigt es, wie ich die scheinbar sinnlosen Kämpfe in Smash Bros vermenschlicht habe. Das Melancholische zeigte für mich, dass die kämpfenden Avatare – in meinem Verständnis des Spiels – auch ein Innenleben haben müssen. Sie kämpfen für irgend etwas. Sie hassen sich nicht, sondern konkurrieren untereinander bei gleichzeitigem Respekt füreinander; ja, sogar mit einer brüderlichen Liebe füreinander. Das freundschaftlich Brüderliche steht ja auch im Titel mit “Bros” der verniedlichenden Form von «Brothers». Auch die TV-Werbung zeigte, begleitet vom Song «Happy Together», wie sich die Figuren eher wie raufende Jungs verhalten.

 

Beim Raufen, dem spielenden Kämpfen, geht auch Freundschaft einher. Wie bei jedem Spiel fördert das Erlebnis die Gefühle füreinander, obwohl man scheinbar gegeneinander antritt. Spielen verbindet eigentlich immer. Mehr noch, selbst Spiele, die für einen einzigen Spieler ausgelegt sind, konnten ein sozialer Anlass sein. Man wechselte sich ab, man rätselte gemeinsam, man half sich gegenseitig, das Spiel zu verstehen und die Siege fühlten sich wie sodann geteilte Siege an, selbst wenn nur einer von beiden Freunden den Controller in der Hand hielt. Diese Erfahrungen dürften wohl für jeden plausibel klingen. Was weniger offensichtlich scheint, ist der dadurch verursachte Erfolg vom Let’s-Play-Format. Millionen von Menschen sehen sich heutzutage Videos an, in denen jemand ein Spiel durchspielt und das dabei kommentiert, bzw. darauf reagiert, wie man häufig zu sagen pflegt. In diesem Format sind wir mit unserer Freude am Spiel nicht mehr allein. Jemand anderes erlebt dieselben Dinge und wir stellen eine empathische Verbindung her, wenn wir seine oder ihre Reaktionen teilen. In vielen Romanen kommt eine Verleger-Figur o.Ä. vor, die den eigentlichen Roman einleitet, dazwischen kommentiert und möglicherweise das Werk abschliessend einrahmt. Noch ähnlicher ist der antike Chor, der in Stücken präsent ist, auf das Geschehen reagiert und damit dem Publikum eine Identifikations-Stütze gibt. Alles Erwähnte sind letztendlich gleich funktionierende Zwischen-Instanzen, die sich mit dem Publikum verbünden und so das Interesse am Inhalt steigern oder unsere Reaktionen lenken. Wahrscheinlich spielte schon in der Literatur und im Theater ein gewisser sozialer Instinkt eine Rolle dabei.

 

Bei Videospielen spielt das Soziale ganz offensichtlich mit. Besonders in der Adoleszenz schätzt man solche Verbindungen sehr, insbesondere weil in einem herkömmlichen, also physischen, sozialen Umfeld nur wenige genau dieselben Spiele gespielt haben wie einer selbst. Online finden aber Gleichgesinnte immer zielsicher zueinander. Meine erste Erfahrung mit Let’s Plays hatte ich anhand von Majora’s Mask. Dieses Spiel aus der Zelda-Reihe hatte ich im Sommer vor meinem ersten Gymnasial-Schuljahr gespielt. Es war eine ungewisse Zeit, ich stand vor einem grösseren Wandel, würde bald vermehrt in die grosse Stadt gehen anstatt in die ländlichere Grundschule und verbrachte weite Teile des Sommers alleine. Es waren die langen Ferien, meine Eltern waren beide berufstätig, mein deutlich älterer Bruder nicht mehr viel in der Stube. Man soll mich aber nicht falsch verstehen, ich habe diese Zeit genossen. Jeden Morgen stellte ich die Konsole an, betrat die Zauberwelt und befand mich sogleich auf dem Marktplatz von Unruh-Stadt, der Kulisse von Majora’s Mask. Dieses Spiel verbindet alles, was ich bisher über Videospiele gesagt habe. Ein psychedelisch anmutendes Fest steht bevor, der Karneval der Zeit. Doch ein Mond mit einer riesigen Fratze kommt der Stadt unaufhaltsam näher und droht, die Stadt samt Umgebung zu verwüsten. Der Held kann das nur durch Zeitreisen aufschieben und steht dann immer wieder auf dem Markplatz von Unruh-Stadt, exakt 72 Stunden vor der Katastrophe. Eine Unendlichkeit tut sich da auf durch die ewigen Wiederholungen, ein Fegefeuer, dem man mit heldenhaften Tugenden entkommen muss. Die Geschichte des Spiels ist geprägt von Gefangenen und Besessenen, die der Held mit seiner Musik und seinen Taten befreien kann. Dieses Meisterwerk hat eigentlich seine eigene Besprechung verdient, ich belasse es aber mal bei diesen bewundernden Worten. Es dürfte klar sein, dass dieses Spiel für mich prägend war. Let’s Plays dazu boten wiederum eine Möglichkeit, später dorthin zurückzukehren. Nicht nur würde ich dann die Geschichte wieder sehen, ich würde erleben, wie jemand anderes meine Eindrücke teilt. In den Kommentaren könnte ich dieser Person Tipps geben oder besonders lustige Momente kommentieren. Die Magie von Majora’s Mask ist wiederholbar! Das Let’s Play bot die Möglichkeit einer Wiederholung durch Zeitreise, passenderweise. Wichtiger noch: Die schönen sozialen Kindheitsmomente, in denen man sich ein Spiel teilte, sind es ebenfalls – bis zu einem gewissen Punkt. Die psychologische Forschung spricht hier von sogenannten «parasozialen» Beziehungen, weil man als Zuschauer zwar eine Beziehung zum Performer hat, aber nicht umgekehrt. Zu wenig Beachtung findet aber der Umstand, dass viele echte Freundschaften online und wegen Videospielen gepflegt werden. Sogar Liebesbeziehungen habe ich auf diesem Wege entstehen sehen. Beachtung finden aber dank reisserischen Schlagzeilen natürlich scheinbar neue, befremdliche Moden: Wie zum Beispiel, dass die parasozialen Beziehungen lukrativ sind: Ein Datenleak der Spieleplattform Twitch hat gezeigt, dass schon dutzende Let’s Player allein durch Zuschauerspenden Millionäre geworden sind.

 

Nicht nur ein soziales Bedürfnis stillen diese Let’s Player. Ein gewisser Youtuber erreichte binnen weniger Monate eine millionenköpfige Fangemeinde mit seinen Minecraft-Videos. Er spielte nicht das übliche Minecraft mit den kolossalen Bauwerken wie vorhin besprochen. In seinen Videos wird er von seinen Mitspielern gejagt und er versucht immer wieder zu entkommen oder sich in Unterzahl kämpfend zu wehren. Sein Name, Dream, ist dabei Programm. Seine Videos sind nämlich clevere Illusionen. Er behauptet zwar, alles entstehe organisch, doch ich erkenne in ihm einen geschickten Zauberer von Oz. Die gezeigten Situationen sind nämlich stets exakt aufgebaut, wie meine eigenen Tagträume damals. Denn in Tagträumen sind Videospiele nochmal um einiges erhöht. Man erträumt sich perfekte Szenen: Verzweiflungsmomente und die zündende Idee oder ein Fünkchen Glück, knapp hinter dem Helden zugehende Tore, scheinbar Unmögliches im entscheidenden Moment vollbracht zum grossen Erstaunen aller. Exakt diese Art von Phantasien beschreibt Freud in seinem Text Der Dichter und das Phantasieren und erwähnt beiläufig das Phänomen, dass Menschen beim Tagträumen solcher Erzählmuster schneller gehen; exakt wie ich es tat beim Phantasieren über mögliche Videospiel-Szenarien. Ja, ich wurde regelrecht zur Sportskanone, wenn sich diese Tagträume richtig einstellten. Dream weiss um den Reiz solcher Szenen und denkt sich immer buntere und erstaunlichere aus. Eine solche Szene hatte zudem Ähnlichkeit zum Reichenbach-Fall von Sherlock Holmes. Seine Mitspieler trieben ihn auf einen hohen Felsen, der über einen Lava-See ragte. Dream schien bezwungen und sprang. Er fiel von seinen Gegnern bejubelt – in den Tod. Doch halt! Er hatte einen Ass im Ärmel: Er hatte vorhin heimlich einen Feuer-Resistenz-Trank getrunken und schwamm ungesehen in der Lava davon. In einer anderen Szene hatte sein Gegenspieler einige Objekte in einen Abgrund fallengelassen und Dream war hinterhergesprungen, um sich aus diesen fallenden Objekten eine Teleportations-Kugel zu schnappen, die er dann knapp vor Aufprall aktivierte. Vermutlich war es kein Versehen von seinem Mitspieler gewesen, das wertvolle Objekt genau dann dort hinunterzuwerfen. Die Emotionen, die Konstellationen der Ereignisse, Setup und Ausgang, alles ist Teil der Performance. Es ist klar, dass ein Performer mit solchen Kunststücken eine starke Resonanz findet. Dream hat die Beziehung zwischen Tagtraum und Spektakel genau verstanden. Minecraft ist für ihn eine Bühne, auf der er dem Publikum genau das bietet, was es schon immer sehen wollte. Er ist nichts weniger als ein genialer Zauberer.

 

Es drängt sich hier auf, etwas zu den Schattenseiten von Videospielen zu sagen. Denn Videospielen wird nachgesagt, dass sie süchtig machen und Gewalt fördern. Letzteres hat meine Kindheit stark geprägt, weil zu jener Zeit in Erfurt und Emsdetten schreckliche Gewaltverbrechen von Jugendlichen verübt worden waren, ohne dass eine klare Motivation zu erkennen war. Geschlussfolgert wurde von allen Medien einstimmig, dass so betitelte «Killerspiele» dafür verantwortlich gewesen seien. Ich denke, stupider könnte diese Vorstellung kaum sein, aber wenn dieser Text mein vollumfängliches Ceterum Censeo zu Videospielen sein soll, so muss ich auch das ansprechen. Zwei Erinnerungen kommen mir da in den Sinn. In der ersten hat tatsächlich wieder Frau Braun den entscheidenden Auftritt. Ich spielte eines Septembermorgens mit einigen anderen Jungs im Kindergarten. In diesem Alter entstehen neue Realitäten quasi im Flug und man verändert diese mit jedem neuen Objekt, das man in die Hand bekommt, und lässt auch zu, dass sein Gegenüber diese Spielwelt dynamisch verändert. Mitten in einem besonders martialischen Spiel habe ich ausgerufen, ich werde den anderen schon noch bezwingen und als Geisel nach Hause tragen. Man darf sich ruhig über diese seltsam spezifische Phantasie wundern, aber meine vielen Kindergarten-Erinnerungen bezeugen mir, dass Kinder nun einmal so spielen. Manchmal arten solche Spiele aus und das ist ein wichtiger Moment in der Erziehung, um den Kindern die Grenze zwischen Spielphantasie und Realität aufzuzeigen, und welche Folgen unser Handeln für unsere Mitmenschen haben kann. Kurz, die Beziehung zwischen Spiel und Empathie. Das hat Frau Braun nach meinem gewaltlustigen Ausruf auch gemacht. Aber nicht etwa, weil ich im Begriff war, jemandem wehzutun – war ich nicht – oder weil man sowas nicht sagen sollte. Der Grund für ihre Empörung lag in den erst kürzlich verübten Flugzeug-Attentaten auf die USA. Diese hätten nämlich gezeigt, so Frau Braun, dass böse Menschen tatsächlich existieren und dass man deswegen sowas nicht spielen dürfe.

 

Bevor ich das kommentiere, möchte ich eine zweite Erinnerung anfügen, die mit Videospielen zu tun hat und den Standpunkt von Frau Braun vielleicht etwas stärken wird. Ich war 9, als ein neuer Star-Fox-Titel erschienen war. Fox, Falco, Slippy Toad & co griffen wieder zu ihren Waffen, um eine Bedrohung im All zu bekämpfen. Schon der Titel Star Fox Assault verhiess durchaus kriegerischen Inhalt. Einmal beaufsichtigte mich statt meiner Eltern meine Grossmutter für eine Woche. Das fiel mit der Phase zusammen, in der ich täglich Assault spielte. Meine Oma, Gott hab sie selig, war keineswegs davon begeistert. Sie war durch und durch vom Inhalt des Spiels empört und verbot mir an gewissen Tagen, daran weiterzuspielen. Vor meinem Freundeskreis, den ich an meinem zehnten Geburtstag zum Spielen um mich versammelt hatte, verkündete sie: «Das Spiel ist das Letzte!» – ein vorlauter Freund von mir reimte darauf «… aber das Beste». Die Haltung von meiner Grossmutter ist besser begründet als jene von Frau Braun. In ihrer frühesten Kindheit erlebte sie die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs. Sie war zwar in keiner Grossstadt, doch hatte man ihr gezeigt, dass sie bei jedem vorbeifliegenden Flugzeug ins Gebüsch springen müsse, um oben nicht aufzufallen. Diese reale Angst vor Flugzeugen begleitete sie als Trauma noch ihr ganzes Leben. Jedes Propellerflugzeug-Geräusch war folglich für sie unangenehm. Ein Videospiel wie eben Star Fox Assault, aus ihrer Perspektive gesehen, verniedlicht den Krieg, macht ihn attraktiv und spassig, obwohl die Flugzeuge darin so sehr einem echten Trauma ähneln.

 

Wie kann man solchen Einwänden begegnen? Ich frage einmal provokant: Zeugt mein martialisches Phantasiespiel im Kindergarten nicht davon, dass wir Gewalt von allein auf die Spielbühne bringen? Wird uns wirklich neue Gewalt von Medien vermittelt? Und in welchem Medium wird öfter ein Völkermord glorifiziert: in einem Videospiel mit sich kloppenden Fuchs-Menschen oder in Winnetou-Geschichten?

 

Absolut kein Medium war jemals unschuldig. Noch wurde echte Gewalt jemals durch ein Medium effektiv trivialisiert. Kriminalgeschichten trivialisieren nach dieser Logik ebenfalls Mord & Todschlag. Doch «ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett», das ist bekannt. Sogenannte «unerhörte Begebenheiten» sind der Motor vieler Erzählungen. Und Tabuthemen wie Gewalt machen eine Begebenheit umso unerhörter. Man bedenke auch, dass früher – oder je nach Gegend auch heute – echte Todesspiele zur Unterhaltung dienten in Form von Hahnen- und Stierkämpfen. Vergleichen wir doch Smash Bros, wo sich die virtuellen Helden bekämpfen, bis einer von ihnen vier Mal von der Arena gefallen ist, mit Stierkämpfen. Ich habe vorhin ausgeführt wie für mich Smash Bros zwischen den Zeilen eine Freundschaft zwischen den Helden ausdrückte. Dieses Brüderlichkeitsgefühl war auch ganz analog zur Freundschaft zu den anderen Kindern, mit denen ich spielte. Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Gewalt in Form des Kämpfens – das «Smash» in Smash Brothers – im Vordergrund steht. Doch würde einer dieser Avatare die Familie des anderen entführen und zur Einschüchterung des Gegners foltern oder gar ermorden? Natürlich nicht, aber genau das ist das Schicksal der Mutter eines Stiers, der wider Erwarten gegen einen Torero gewinnt.

 

Nein, kein Medium war je unschuldig, denn das gilt auch für Menschen. Dass wir immer wieder Gewalt in unseren erzählenden Medien wiederfinden, hat damit zu tun, dass sie eine Resonanz auslöst. Skandalwerke, wie sie es eh und je gegeben hat, sind dazu da, uns mit unseren Schattenseiten bekannt zu machen; uns zu zeigen, was der Mensch zu träumen imstande ist, also wir zu träumen imstande sind, denn wir träumen ja immer mit. Das bedeutet aber nicht, dass uns ein Skandalwerk Gewalt beibringt. Wäre der Inhalt in einem Phantasiewerk für uns wirklich fremdartig, so würden wir ganz anders reagieren. Ein Kind, das versehentlich mit Pornographie konfrontiert wird, reagiert verwirrt, vielleicht belustigt, aber vor allem teilnahmslos. Irgendetwas hallt in so einer Situation im Kind sicherlich wieder, aber nicht viel; dafür muss es noch älter werden. Ich denke, bei Videospielen können wir etwas Ähnliches beobachten: Was in uns Resonanz findet, das spielen wir gerne. Ich hätte jederzeit Pferdespiele, Simulationsspiele oder Tamagochis haben können, doch dafür war einfach kein Interesse da. Hingegen hatte spielerische Gewalt einen gewissen Reiz. Nur hätte diese Gewalt, wie eben beschrieben, nicht wirklich reale Gewalt sein dürfen, dieser Unterschied war mir unbewusst klar. Eine Lust an der simulierten Gewalt war für mich der Ausdruck einer in mir präsenten Gewalt. Ich betrachte es darum als sinnlos, Spiele und Phantasien – wie damals Frau Braun oder die deutschen Medien – nach dem Merkmal „Gewalt“ verbieten zu wollen. Hat man aufrichtige didaktische und beschützerische Absichten, muss man sich auf das spielende Kind und seine eigene Phantasiewelt im Detail einlassen.

 

Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Videospiel-Sucht. Diese Perspektive wird, wie eingangs erwähnt, viel und gern heraufbeschworen, um über Videospiele zu sprechen. Zwischen den spielesüchtigen Amokläufern und den Let’s-Play-Millionen könnte man sich durchaus fragen, ob hier eine Sucht-Epidemie um sich greift. Es stimmt ausserdem, dass die meisten Videospiel-Fans auch schon stundenlang am Stück gespielt haben, zum Teil durch die Nacht hindurch. Eltern versuchten stets, die Spielzeit zu begrenzen. Die maximale Spielzeit wurde oft von ihnen thematisiert und alle meine Freunde entwickelten hinterlistige Strategien, wie sie ihre Spielzeit maximieren konnten. Erst dann anfangen, wenn die Eltern tief beschäftigt sind, damit man immer sagen kann, man spiele erst seit zehn Minuten; oder am Wochenende ganz früh aufstehen, weil das die Eltern nicht können und man auf diese Weise gut und gerne zwei Stunden vor dem Frühstück spielen kann, ohne sein Tages-Kontingent anzurühren. Und so weiter. Eines Tages  war ich bei einem Freund von mir zu Besuch. Gemeinsam spielten wir ein Strategiespiel, in dem man statt menschliche Armeen mythologische Geschöpfe und Helden übers Spielfeld schickt. Aber oh, seine Mutter verbot uns, an diesem Nachmittag weiter am Computer zu sitzen. Soeben im Spiel vertieft gewesen mussten wir nun widerwillig den Spielstand speichern und den PC herunterfahren. Unschlüssig gingen wir in den geräumigen Dachboden, um irgend eine andere Beschäftigung zu finden. Nicht lange und wir bauten dann das eben gespielte Strategiespiel mit Objekten aus dem Dachboden einfach nach. Aus dem Fussboden wurde die Karte des Spiels, auf der sich Gebäude und die mythologischen Helden befanden. Wir nahmen Lego, Knex und andere dieser Bau-Sets her. Praktisch in Echtzeit bauten wir damit unsere jeweiligen Lager auf und expandierten über die phantasierte Boden-Karte. Mehr noch: Während das Computerspiel dem Spieler vorhersehbare, weil unselbstständige, Figuren gibt, die bis zum Sieg oder zur Niederlage kämpfen, dichteten wir in unserer eigenen Version ganze Geschichten zur geopolitischen Entwicklung unserer Phantasiereiche hinzu. Die Einheiten bekamen eine Agency in der Geschichte und wuchsen durch ihr Streben nach dem strategischen Sieg als Personen heran. Die Frage ist jetzt: Waren wir so sehr nach dem Spiel süchtig, dass wir es sogar mit Computerverbot weiterspielten? Oder stillten wir uns unser Verlangen nach Spiel und Phantasie mit jedem zur Verfügung stehenden Mittel? Welche Rolle kommt dann dem Mittel noch zu? Inwiefern hat sich unser Spiel – für uns und unsere Psyche – vom Spiel am Computer unterschieden? Und wie unterscheidet sich das überhaupt von Kindern, die draussen das nachspielen, was sie wahlweise in Kinderbüchern oder Filmen vermittelt bekamen? Ob Winnetou, Legolas oder Super Mario, wir schlüpften als Kinder gerne in die Avatare unserer Phantasiewelten, waren aber deswegen nicht in diesen Welten gefangen.

 

Ich denke, eine Sucht ist den Videospielen nicht inhärent. Anders als bei körperlichen Abhängigkeiten, kann eine Sucht alles Mögliche betreffen. Es ist darum schwer, zwischen einer grossen Leidenschaft für eine Sache und eine Sucht zu unterscheiden. Gerne wird von Psychologie-Fachkräften auf das Verhalten verwiesen: Wenn eine Sache die normalen Prioritäten ausser Kraft setzt und überhandnimmt, wenn die Noten leiden und dergleichen. Doch hat so eine oberflächliche Betrachtung ohne Introspektion enorme Schwächen: Was sind denn die «normalen Prioritäten» eines Kindes? Sein schulischer Erfolg für seinen späteren Werdegang und Erfolgsaussichten sind rein anerzogen und hoffentlich nicht schon im Kindergarten-Sandkasten eine Priorität. Körperlich wie mental sind Kinder unermüdlich. Uns Erwachsene straft der Körper sofort bei zu wenig Bewegung und zu viel Sitzen. Nein, ein Kind mit beinahe bürokratischer Psychologie verstehen zu wollen ist ein lächerliches Unterfangen. Nur hilft uns das nicht weiter nach der Frage: Wo endet die Videospiel-Leidenschaft und wo beginnt diese sagenumwobene Sucht?

 

Ich habe bisher aufgezeigt, wie Videospiele für mich eine Leidenschaft waren; wie sie mein kindliches Verlangen nach unendlichen Phantasiewelten gestillt haben; wie sie einen starken sozialen Aspekt hatten und wie dieser soziale Aspekt auch in späteren Lebensphasen noch aktiv ist. Doch wenn etwas perfekt zu unseren emotionalen Grundbedürfnissen passt und auch noch einen sozialen Aspekt besitzt, dann liegt der Vergleich zu Drogen nicht weit. Die moderne Unterhaltungsindustrie wirkt häufig wie eine telemedial konsumierbare Droge. Diese Beobachtung liegt allen Werken von David Foster Wallace zugrunde. Ellenlang schreibt er über TV-Konsum und seine affektiven Wurzeln, noch länger ist sein Text über die Porno-Industrie und ihre Abgründe und sein – in deutscher Übersetzung – 1’500-seitiger Roman Infinite Jest dreht sich um einen Film, das sogenannte «Entertainment», das so perfekt ist, dass jeder Mensch beim Ansehen all seine Grundbedürfnisse missachtet und schlussendlich elendig vorm Bildschirm verendet. Wallaces Angst begründet sich in seiner eigenen Fernsehsucht. Einmal schimpfte er darüber, dass man ihn als den Drogen-Autor kannte und Gerüchte verbreitete, er sei heroinabhängig gewesen. «Meine primäre Sucht galt schon immer und gilt immer noch dem Fernsehen», betonte er. Die Sucht erklärt er sich so, dass die meisten Amerikaner zutiefst ausgebeutete Leben führen, in denen die Arbeit und die langen Autofahrten dorthin und zurück, praktisch das ganze Leben füllen. Feiertage und Ferientage gibt es dort sehr wenige. Das Fernsehen erlaubt es, in relativ wenig Zeit eine Illusion von einer perfekten Welt zu geniessen. Man kann sich an den Bildern freuen und so ein wenig daran teilhaben. Das Fernsehen ist und bleibt in so einer Konstellation der einzige Zugang zu dieser Welt und so macht man sich auf dem Sofa vom Fernsehen abhängig.

 

Ein zurecht wenig beachtetes Video hat mir in diesem Zusammenhang immer imponiert: I am a gamer. Ein junger Mann schimpft in diesem Video, wie man von ihm erwartet, Videospiele beiseite zu legen und in ein echtes Leben zu führen. Im echten Leben sieht er aber nur «ein schlichtes Reihenhaus und meinen weissen Lattenzaun», also ein unpersönliches und belangloses Leben. Die Spielwelt hingegen stellt er dar – noch viel enthusiastischer als ich – als eine Welt, wo er nacheinander Raumschiff-Kapitän, Wikinger und Elitesoldat sein kann. Er schwärmt davon, dass er sich in Schriften und komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge einarbeiten muss, bevor er zu Heldentaten schreitet. Ganz klar, es ist ein trauriges Video. Sollte er es ernst gemeint haben, so zeigt sich darin, dass er sich mit der Phantasie überidentifiziert. Er verleugnet, dass Computerspiele Phantasien sind; dass er sich in keine Sprache oder sonst eine echte komplexe Fähigkeit eingearbeitet hat. Videospiele kürzen so etwas ab, stellen andere, überschaubarere Aufgaben an diese Stelle. Man darf ihre Erzählungen nicht für bare Münze nehmen. Aus diesen Worten trieft ausserdem Verzweiflung. Und Angst vor einem gänzlich sinnlosen Suburbia-Leben. Weniger als einen schädlichen Einfluss von Videospielen sehe ich hier einen zutiefst verunsicherten jungen Mann, der mit den trostlosen Aspekten des Lebens hadert und umso mehr die Flucht in die Phantasie sucht. Hier würde ich von einer Sucht sprechen. Sucht als Suche nach Sinn mit nur einem möglichen Fundort.

 

Die Rolle von Spielen in unserem Leben ist also entscheidend. Wenn Videospiele unser Leben nur erweitern, wir aber andernorts bereits Freude, Phantasien und Lebenssinn kennen, so sehe ich die Sache unkritisch. Es ist traurigerweise aber so, dass viele Menschen ein tristes Leben führen. An vielen Orten herrscht eine Gewaltkultur, die schon in jungen Jahren gepflegt wird. Mobbing wird dort verharmlost, geduldet, bisweilen von den Erwachsenen akzeptiert und sogar vorgelebt. Der Mensch war schon immer des Menschen ärgster Feind. Der sogenannte Eskapismus flüchtet häufig zurecht vor der äusseren Welt. Eskapismus gab es allerdings schon immer und Videospiele sind nur ein moderner Ort, an den man jetzt flüchten kann. Früher waren es Verschwörungstheorien, elaborierte Rollenspiele oder sektenartige Gruppen. Es ist bei Videospielen halt ein treffender Zufall, dass die Konsole so genannt wird. Das Wort entstammt dem französischen «Consolateur», was ein Unterstützer und Träger, aber auch ein Tröster war. Eine Konsole stützt den Rechenaufwand der Spiele, aber wichtiger noch: Die Konsole vermag die Spielenden zu trösten.

 

Es fällt mir immer wieder schwer, Videospiele vor Kritik zu verteidigen. Allen voran natürlich, weil die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was gute Kunst und Kultur ist, sehr festgefahren sind und relativ wenig Menschen selbstkritisch reflektieren, was Kunst für sie ausmacht, worin künstlerische Komplexität bestehen kann und woher ihre Annahmen über Medien und Kunstformen kommen. Die Verteidigung von Videospielen fällt mir vor allem deswegen nicht leicht, weil es dabei um sehr persönliche Gefühle geht, die darüber hinaus unendlich komplex sind. Wir alle wachsen heran und finden uns in einer verwirrenden und häufig enttäuschenden Welt vor. Die Erfahrung, Mensch zu sein, ist paradoxerweise ziemlich unmenschlich. Menschen misstrauen einander und sie misstrauen den jüngeren Mitmenschen. Phantasie ist dem Menschen angeboren und durch Erzählungen wird sie gefördert, genährt und geformt. Angeboren ist nämlich der Wunsch, Unmögliches möglich zu machen. Unsere Phantasie ist ein Mittel zu diesem Zweck und ist darum unentbehrlich. Eine gesunde Psyche hat gesunde Phantasien. Alle Menschen entwickeln darum ihre Kulturformen. Weil es aber so schwierig ist, diese zu begründen und zu rechtfertigen, gibt sich der Mensch mit apodiktischen Aussagen zufrieden: Bücher sind nun einmal besser als die Glotze. Klassische Literatur besser als dieser moderne Schund. Wobei diese sogenannten Klassiker auch damals missfielen, da sie nicht mehr aufklärerisch waren. Und die Aufklärung war ja sowieso eine Laune der rebellischen Jugend. Und immer so weiter.

 

Ich habe in diesem Text versucht, diesen argwöhnischen Vorurteilen, wie sie die Videospiele unweigerlich treffen mussten, mit einem möglichst breiten Korpus an Vergleichswerken zu begegnen. Ich hoffe, dass diese Vergleiche einleuchtend waren und die universellen Aspekte von Videospielen illustrieren konnten. Wenn ich erfolgreich war, sollte ich den folgenden Appell gar nicht mehr aussprechen müssen: In einer Zeit von so starkem medialen Wandel ist es natürlich, dass die Angewohnheit des Lesens schwindet. Natürlich schwindet damit die Bekanntheit von wichtigen literarischen Werken, was schade ist. Aber tun wir nicht so, als ob gleich ein Teil der Menschheit damit untergehen würde. Tun wir nicht so, als ob in den neuen Medien keine genau so reiche Phantasie gelebt werden kann. Tun wir stattdessen unseren jungen Mitmenschen einen Dienst und erkennen stets ihre Phantasien empathisch an. Unterstützen und trösten wir sie mit Konsolen. Lasst uns mit ihnen spielen! Wir haben nichts damit zu verlieren!

“Kämpfende Kühe” von Franz Marc