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Glaubenskrieg in der Einöde: Filmkommentar zu FURY ROAD

Hintergrund

 

George Miller, Regisseur von Fury Road, stammt von griechischen Flüchtlingen aus Anatolien ab, welche ihren Namen, «Milliotis», in Australien anglisiert hatten. Er wuchs in den Vierzigern und Fünfzigern im ländlichen New South Wales auf, wo die obsessive Autokultur allgegenwärtig war und regelmässig ihre Opfer forderte. Er spricht von «Violence and road carnage» und erzählt davon, wie unheimlich viele in seinem Freundeskreis schwere Verletzungen von Autounfällen hatten, noch bevor sie ihr Studium begonnen hatten. Er studierte Medizin und wurde Notarzt, wodurch er mit den Folgen dieser Autokultur umso direkter in Form von Unfallpatienten – meistens männlich – konfrontiert wurde. In den Siebzigern arbeitete er als Arzt und produzierte nebenher experimentelle Kurzfilme, für die er zum Teil Auszeichnungen gewann. Die Autokultur, körperliche Traumata, die Ölkrisen der Siebziger, experimentelles audiovisuelles Erzählen: All diese Einflüsse brachte er in seinem Spielfilmdebüt zusammen: Mad Max, einem Auto-Western, der inmitten der Apokalypse spielt. Filmisch gewagt und einzigartig – und doch ein Riesenerfolg, der seinen Hauptdarsteller, Mel Gibson, weltbekannt werden liess, und einen noch erfolgreicheren zweiten Teil nach sich zog. Der dritte Teil, jedoch, kam weniger gut an und liess die Filmserie Ende der Achtziger vorerst abgeschlossen scheinen.

 

Miller widmete sich anderen Filmen, darunter zwei über ein sprechendes Schwein und zwei andere über einen stepptanzenden Pinguin. Mad Max hatte er dabei nicht vergessen und entwickelte in den Neunzigerjahren bereits ein Skript für einen vierten Teil. Es dauerte aber insgesamt drei Dekaden nach Teil drei, ehe Fury Road in die Kinos kam. Zu zahlreich und unerwartet waren die Hindernisse: Mel Gibson gab antisemitischen Mumpitz von sich und machte sich so für eine Reprise der Rolle unmöglich; der geplante Drehort in Australien war durch ungewöhnliche Regenfälle mit Vegetation überzogen worden und der stepptanzende Pinguin, Happy Feet, war doch sehr erfolgreich und verzögerte die Arbeit an Fury Road.

 

Die grösste Herausforderung aber: Jeder Mad-Max-Film war in seiner Ästhetik und Inszenierung kompromissloser und bombastischer geworden. Dieser Film sollte vieles sein – wortlos verständlich, bildgewaltig, schnell, subversiv, revolutionär, noch wahnsinniger als die drei davor – aber sicher nicht billig. Ausserdem hatte 9/11 den US-Dollar so sehr geschwächt, dass internationale Projekte zu teuer wurden. Über ein Jahrzehnt von Verhandlungen und internen Personalwechseln beim Studio waren für das grüne Licht nötig, was schlussendlich kam.

 

Miller rüstete zur Materialschlacht. Über 130 Gefährte wurden eigens entworfen, gebaut und nach Namibia überschifft, dem neuen Drehort, wo dutzende kahlgeschorene, durchtrainierte Glatzköpfe bereits für ihre Rollen trainierten. Sie lebten wie in einer theokratischen Sekte; unter rituellem Trommelgetöse empfingen die sogenannten War Boys die Schauspielerinnen des Films, die weiss verhüllt anreisten. Das alles hatte seinen Sinn und Zweck. Bei der Vorbereitung dienten nämlich nicht nur dieses über anderthalb Jahrzehnte entwickelte Drehbuch, sondern ebenfalls der Schauspiel-Philosoph Nico Lathouris und die feministische Aktivistin und Autorin der Vagina-Monologe, Eve Ensler. Die Hauptdarstellerin Charlize Theron sinnierte später darüber, dass ihre Performance von ihrer eben begonnenen Mutterschaft gefärbt war; sie hatte wenige Wochen vor Drehbeginn entbunden.

 

Über Monate hinweg rasten Cast&Crew besinnungslos furios über die namibische Wüste, bis dieser aberwitzige Streifen im Kasten war. Computergenerierte Action sollte nicht zum Einsatz kommen, wo nicht unbedingt nötig. Das war für viele ein belastender Dreh, nicht zuletzt für den mittlerweile siebzigjährigen George Miller. Das Projekt glückte aber über alle Maße: Der entstandene Film ist in jeder Hinsicht ein furioses Spektakel – und doch ist er nicht repetitiv oder inhaltsleer. Auch wenn er narrativ kaum Kontext gibt und zum grössten Teil aus feuriger Action besteht, bleibt er intellektuell stimulierend mit einer unaufdringlichen und doch deutlich spürbaren Komplexität.

 

Filmkommentar

 

Fury Road ist trotz allem ein optimistischer Film. Der simplistische Kampf gegen «die da oben» ist hier berechtigt und gut: Es geht um eine Einöde, deren Misere aus einem Triumvirat von kranken Herrschern besteht. Eine Revolution wird diese stürzen und ein Leben in Würde wieder ermöglichen. Das Mittel dazu, lebensspendendes Wasser, hat der oberste Herrscher für sich gepachtet: Immortan Joe sitzt auf einer rar gewordenen Wasserquelle und geniesst somit die absolute Macht in seiner phallischen Zitadelle. Seine Rüstung ähnelt einem Wasserfall, der aus seinem Schritt entspringt. Wie sein Namensvetter Josef Fritzl hält er seine Sex-Sklavinnen hinter einer wuchtigen Stahltüre eingeschlossen. Der Vergleich reicht aber weiter: Beide dieser pervertierten Vaterfiguren – die auch noch wie der heilige Josef heissen – rechtfertigen die Versklavung mit einer korrumpierten äusseren Welt, vor der geschützt werden muss. Darauf spielt ein Slogan an, den Nux einmal ausruft: «We are not to blame» (uns trifft keine Schuld). Immortan Joes Diktatur ist geframet als Reaktion auf die Apokalypse, an der er keine Mitschuld haben will.

 

Nun wirkte Ende der Neunzigerjahre eine theokratisch-faschistische Reaktion auf die Klimakrise wie pure Fiktion. Junge Männer aus westlichen Gesellschaften, die sozial wie theologisch überholte Standpunkte einnehmen, sich dabei als «Boys» bezeichnen und einem greisen, empathielosen Sultan hinterherhecheln? Nur ein Jahr nach Fury Road gründeten sich tatsächlich die Proud Boys, deren Slogan lautet: «Ich bin ein stolzer westlicher Chauvinist und werde mich nicht dafür entschuldigen, die moderne Welt erst erschaffen zu haben.» – We are not to blame.

 

Aber bereits vor den stolzen Waschlappen war ein solches Gebaren nicht rein fiktiv. Die Boys werden als «kamicrazy» bezeichnet, eine Anspielung an die Kamikaze-Krieger. Bei der Recherche machte mich eine Bekanntschaft auf die Ähnlichkeit aufmerksam zwischen den Boys und Fussball-Hooligans. Sigmund Freuds Massenpsychologie greift bei all diesen Beispielen: Das Individuum wird in der Masse anonym – die Boys sind kahlgeschoren und kaum voneinander zu unterscheiden – es wird ferner primitiv und idealisiert einen Führer. Das Phänomen ist also nicht kulturspezifisch, sondern recht universell; bei Vergleichen der War Boys mit dschihadistischen Gruppen darf man das nicht aus den Augen verlieren. Eine Mehrheit der von mir Befragten aus meinem Bekanntenkreis gab an, die Ästhetik der War Boys durchaus zu geniessen. Die Filmmusik, im Film selbst von den Boys gespielt, reisst uns erst richtig rein; im infernalen Sturm erklingt mächtig das Walhalla-Thema, wir sollen uns zusammen mit den Boys auf den bevorstehenden Tod freuen und die Zerstörung bewundern. Ich selber erkenne diese Ästhetik in meinem Genuss des Black Metal wieder, einer besonders kakophonen und ästhetisch grotesken Form des Metal, wo gerne auch Walhalla und dergleichen besungen wird. Ein grosser Teil der Black-Metal-Fans nimmt eine seltsame Position ein, wonach das neo-paganistische Besingen von Walhalla möglichst unpolitisch sein soll, bzw. einfach vor linker Kritik immun. Und ja, auch die War Boys sind individuell betrachtet unpolitisch. Sie ersticken politische Veränderung im Keim und lassen keine Rationalität zu. Wer sich hingegen seines Verstandes bedient und dadurch gefährlich politisch wird, das sind hier die Frauen.

 

Diese bilden eine Antithese zum wilden Haufen der War Boys. Sie sind das letzte Überbleibsel eines Bildungsbürgertums, sind also eloquent und gewitzt. Sie existieren aber auch unter dem Mantel chauvinistisch-männlicher Unterdrückung. Schön sind sie, weil sie im goldenen Käfig leben und sich dem Immortan entsprechend kleiden müssen. Ihre weisse Kleidung suggeriert Reinheit, Unberührtheit – sie manifestiert also die projizierende Sicht des Immortans. Als sich die Frauen waschen, haben wir kurz Teil an seinem Blick: Das Wasser kontrastiert mit dem Rest der Umgebung; es ist sauber, selten, kostbar. Die weiblichen Körper teilen diese Eigenschaften – und schon müssen wir uns fragen: Objektifizieren, also entmenschlichen wir hier die Wives mit unserem Blick? Denn am Wasser haftet noch eine zusätzliche Assoziation, die ebenfalls den Frauen aufgezwungen wird: Die Fähigkeit, Leben zu erschaffen. Das ist ein egoistischer Wunsch des Immortans, der seine Macht durch Vergewaltigung ausübt und sich so Nachfahren erschafft. Hinter dem praktisch euphemistischen Wort «Wife» steckt eine grausame Realität, die vom War Boy deutlicher ausgedrückt wird mit dem Wort «Breeder»: Sie sind Gebärmaschinen.

 

Ich verwende dieses Wort sehr bewusst, da Körper im Film Gegenstände oder Nutztiere sind, und Gegenstände zu Körpern werden. In der Zitadelle wird die Maschinerie von Sklaven angetrieben, Frauen werden gemästet und aufs Milchgeben abgerichtet, alle Untergebenen des Immortans sind gebrandmarkt. Alles erinnert an Ochsen und Kühe. Gesunde Körper können für die Blutgewinnung nutzbar gemacht werden: Max hängt zunächst von der Decke und steckt nachher vorne am Auto – sein Blut soll nämlich möglichst reich an Adrenalin sein (im Film genannt «Oktan»). Und so wie das Brüllen und Fauchen der War Boys die Motorengeräusche komplementiert, so sind die Geräusche der Fahrzeuge auffallend lebendig. Der War Rig schnaubt und schnappt gierig nach Luft als Reaktion auf die Wehen von Angharad, von den Harpunen getroffen sprüht er mit Walgeräuschen die Milch nach draussen und die vermeintlichen Motorengeräusche sind tatsächlich stark bearbeitete Laute von Bären und Walfischen. Das Gefährt von Immortan Joe besteht aus zwei Cadillacs, die schräg übereinander montiert sind und laut dem Chefdesigner soll das kopulierende Autos darstellen. Imperator Furiosa ist das klarste Beispiel der Vermählung von Mensch und Maschine mit ihrer Arm-Prothese. Dadurch ist sie eine gehandicapte Anführerin einer feministischen Revolte – es gab aber kein Klagen darüber, dass der Film zu woke sei.

 

Was aber durchaus bemängelt wurde, ist, dass der Film möglicherweise die Beschaffenheit von Körpern an eine moralische Wertung koppelt; das ist der sogenannte Ableismus. Die Schönen sind die guten, die Hässlichen und Deformierten sind die Bösen. Das ist im Film durchaus spürbar; wegen George Millers Erstausbildung als Mediziner ist der Körper bei ihm ein Bedeutungsträger und keine Entscheidung willkürlich. Das bezeugen solche Details, wie zum Beispiel hörbar austretende Luft, als sich Max die Nadel aus dem Hals zieht; wenn so eine Nadel zu lange steckt, bilden sich schmerzhafte Luftbläschen, die Max noch vor Nux geweckt haben. Wenn es also um Körper und Gesundheit geht, schaut Miller sehr genau hin. So auch die Vuvalini mit ihrem durchaus entmenschlichenden Duktus mit den Körpern der Frauen. Die War Boys sind nicht nur im übertragenen Sinne verstrahlt, sie leiden alle an Krebs und sind deshalb auf Bluttransfusionen angewiesen. Und der Menschenfresser trägt eine Nasen-Prothese, da ihm Lepra die Nase genommen hat. Man mutmaßt in der Fan-Community, ob seine Krankheit eine Folge von Kannibalismus sein könnte. Der Menschenfresser ist darüber hinaus hochinteressant; er verkörpert einen zügellosen Hedonismus: Als einziger ist er in der Einöde fähig, übergewichtig zu sein, abgesehen von den versklavten Milchmüttern, womöglich weil er tatsächlich Menschen konsumiert und sein Kostüm mit den Nippelklammern deutet auf eine extravagante Sexualität hin. Im Drehbuch trug er ebenfalls Frauenkleider und befummelte sich im Kampf. Darauf wird mit seiner lüsternen Reaktion angespielt, als er die eine Kämpferin der Vuvalini überfährt. Das erste Konzept vom Menschenfresser sah ausserdem einen Schlauch im Schrittbereich vor und tatsächlich hören wir im Film leise Fliegengeräusche, wenn er im Fokus ist. Er erledigt also nicht nur das Geschäftliche unterwegs, sondern auch sein Geschäft, wohl zu seinem perversen Gefallen. Der Menschenfresser ist ein reizüberfluteter Körper zu Lasten seiner Umwelt.

 

Und so würde ich diese implizite Verurteilung von Krankheit und Perversion im Film verteidigen. Im Grunde geht es bei dieser Körpersymbolik darum, wer von etwas profitiert und wer zu Schaden kommt. Max ist ja der «Universal Donor» und unterstützt so zunächst Nux – unfreiwillig – und heilt Furiosa schlussendlich aus freien Stücken mit seinem Blut. Ein universaler Spender ist er auch im übertragenen Sinn. Ein Freund und Helfer in der alten Welt, ist er auch hier immer in der unterstützenden Rolle. Doch ist ihm diese Verantwortung zu seinem grössten Laster geworden: Er wird geplagt von den Apparitionen seiner Liebsten, die er nicht vor dem Tod bewahren konnte. Darum verbindet er sich nur zögerlich mit dem Frauenaufstand. Dass die Frauen der Tod erwartet, festigt deshalb zuerst seine ablehnende Haltung – nicht noch einmal jemanden sterben sehen, der ihm irgendwie nahestand. Das Argument, dass es hier um Befreiung geht, überzeugt ihn aber dann doch. Nur wird er bald darauf retraumatisiert, als Splendid Angharad stirbt – wegen der Streifschusswunde, die er ihr selber empathielos zugefügt hatte.

 

Auch Nux stirbt, mit ihm war Max immerhin per Blutsbrüderschaft verbunden; sie waren buchstäblich «Brothers in Arms» – so heisst ein Stück im Soundtrack. Nux erfährt nie wie Max überhaupt heisst, «Bloodbag» bleibt sein einziger Name für Max. Doch Freundschaft kann man das nennen, es wird einfach beeindruckend subtil erzählt, etwa anhand des Schuh-Motivs: Max verliert kurz vor dem Sturm einen Schuh an Slit, nimmt darum Nux nach dem Sturm einen Stiefel weg. Als Teil der Beute vom Bulletfarmer bringt er ihm später einen Ersatz dafür. Die Kette an Nux’ Hals ist ein manifestes Symbol seiner unklaren Zugehörigkeit und ebendiese Kette vereitelt auch seinen Mordversuch. Es sind diese kleinen Symbole und Gesten, sowie die vielen akuten Gefechtssituationen, mit denen die Solidarisierung zwischen den Figuren erzählt wird. Es ist nicht nur eine einzige Tschechow-Flinte, die im Film entladen wird, sondern ein ganzes Arsenal davon. Und das bezeichne ich als unaufdringliche Komplexität, weil die affektiven und, ja, spirituellen Konsequenzen dieser Entwicklungen weitreichend sind.

 

Ich habe von der post-traumatischen Abschottung von Max erzählt, die er zum Teil überwindet. Ich habe von der Objektifizierung der Frauen gesprochen; die Geschichte ist ihr Kampf der Subjektwerdung. Und entgegen der erwähnten Anonymisierung der War Boys lernt Nux die Macht des Mitgefühls kennen, für die er sich auch opfert. Sein Wunsch zu sterben, ja, historisch zu sterben auf dem Pfad der Furien, wie er anfangs sagt, geht in Erfüllung. Sein Tod wird von seiner Geliebten bezeugt (witnessed), gemäss seiner Religion, und sein Opfer wird mit der rituellen Geste der Vuvalini von ihr erwidert. Die beiden verfeindeten Religionen kommen hier zusammen, was mit der E-Gitarre und dem Lenkrad markiert wird. In diesem pathetischen Moment werden die Symbole neu besetzt. Standen diese beiden Dinge einst für den Immortan, so stehen sie jetzt für Befreiung. Der Immortan hielt seine War Boys infantilisiert und seine Frauen keusch; die freie E-Gitarre und das fliegende Lenkrad sind in meinen Augen unverschämt befreite Genitalien – ich erfülle somit wiedermal das Klischee des freudianischen Ansatzes.

 

Aber was wurde konkret erreicht? Wozu diese ganze Materialschlacht? «Where must we go […in] this Wasteland […]», fragt uns das erfundene Zitat am Schluss. Diese Nennung von „Wasteland“ geht sehr wahrscheinlich auf den Kulturtheoretiker Joseph Campbell zurück. Dort steht dieser Ausdruck für eine innere Verstimmung, die sich symptomatisch in der Landschaft äussert, wie beim kranken Fischerkönig in Parzival. Nach dem ersten Weltkrieg schrieb T.S. Eliot im Gedicht The Waste Land ebenfalls zu diesem Konzept, wo dieser als Antwort auf Zerrüttung und Leere die drei folgenden Worte aus einer der Upanishaden zitiert: Datta, Dayadhvam, Damyatta. Geben, sich zügeln und Empathie aufbauen. Drei starke und sehr wichtige Konzepte.

 

Die Immortan-Theokratie war von zügelloser Ausbeutung gekennzeichnet. Er gab nicht, sondern hortete alles für sich, und kannte auch kein Mitgefühl. Er konsumierte indes zügellos und beutete aus. Der geizige Menschenfresser verkörpert das noch stärker. Der Gott jener Religion, also Immortan, ist jetzt aber tot, nun kann der wahre Gott zurückkehren, in Form von: ökologischer Zügelung, Verständnis füreinander und materieller Umverteilung. Es sind diese Ideale, die im Verlauf der Handlung erkämpft worden sind. Ebenfalls ist die exhibitionistische Obsession mit dem «Witness me!» vergangen und mit einem theologisch sinnvollen Fundament ersetzt worden. Hierzu nehme ich wieder zwei kleine, aber bedeutungsreiche Momente auf: Anfangs hatten Nux und Slit sehr ostentativ in Richtung des Immortans gebetet und wurden ob seines Blicks geradezu ekstatisch. Später betet eine der Wives – vor deren Reise durch das finstere Tal – und gibt offen zu, sich nicht gross zu scheren, wer oder was da womöglich ihrem Gebet zuhört. Zwei Stellen, die aufzeigen, was Kierkegaard über das Beten sagt: Es sei ein Akt, der nicht Gott oder die Welt verändern soll, sondern den Betenden. Ein entscheidender, ja, alles verändernder Unterschied besteht aber: in der materiellen Konsequenz dieses Betens, den Zielen der Betenden. Eine wahrhaft solidarische Theologie akzeptiert den stillen Gott und lässt diesen in Form von kommunalen Taten erlebbar werden. Der Segen muss auch ein materieller sein. Es kommt darauf an, ob das Brot auch wirklich geteilt wird. «Der Herr deckt reich den Tisch und füllt den Becher bis zum Rand.»

 

Und das passiert nun. Die Frauen haben die Samen der Vuvalini heimgebracht, die Milchmütter lassen das Wasser strömen, es verteilt sich grosszügig in der Gemeinde, es erwächst wieder Hoffnung.

 

Datta, Dayadhvam, Damyatta, Amen.

 

Bibliographie

 

Abbie Bernstein. The Art of Mad Max: Fury Road. Titan: London 2015 (zitiert aufschlussreiche Äusserungen der Kostüm- und Autodesigner)

Big Joel. «The Wasteland of Jordan Peterson.» Youtube, 04.01.2020, https://www.youtube.com/watch?v=wZoHGAK3k-I (für die Interpretation von Eliots Waste Land)

The Deep Dive. «MAD MAX FURY ROAD BREAKDOWN! Secret of the Chrome.» Youtube, 19.09.2023, https://www.youtube.com/watch?v=_SNIlbvFPFE (an einigen Stellen fehlerhaft, aber für einige Details wertvoll, u.a. einige Insights aus dem Drehbuch)

FILM CRIT HULK. «Why MAD MAX: FURY ROAD Works – A Scene-By-Scene Breakdown.» YouTube, 29 August 2021, https://www.youtube.com/watch?v=8K2YdftsywM (beste Gesamtinterpretation, insb. die nuancierte Aufarbeitung der feministischen Themen und der Widerspruch gegen den Ableismus-Vorwurf)

Kennedy Miller Mitchell. Mad Max: Fury Road (Drehbuch mit Storyboards). Einsehbar unter: https://static1.squarespace.com/static/5a1c2452268b96d901cd3471/t/5be5d2b2898583a66a5e0001/1541788344746/mad-max-fury-road-2015.pdf (unklar, wer das hochgeladen hat und wieso es fragmentarisch ist)

Kyle Buchanan. Blood, Sweat & Chrome: The Wild and True Story of Mad Max: Fury Road. William Morrow: New York City 2022 (Grossteil der zitierten Fakten sind hieraus)

Lindsay Ellis. «Planting and Payoff – Featuring Mad Max: Fury Road.» Youtube, 02.02.2017, https://www.youtube.com/watch?v=PLLGN7zv-3k (aufschlussreiche Erklärung der subtilen Komplexität und der medizinischen Details)

Morgan Mussel. «Fear in a Handful of Dust.» The First Gates, 26 Jan. 2021, https://thefirstgates.com/tag/joseph-campbell/. (für den Eliot-Campbell-Link)

Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse in: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Band XIII. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 1972, S. 71–161. Hier einsehbar: https://www.projekt-gutenberg.org/freud/massen/

Søren Kierkegaard. Erbauliche Reden in verschiedenem Geist. 1847. In zusammengefasster Version hier einsehbar: http://sorenkierkegaard.org/upbuilding-discourses-in-various-spirits.html

T.S. Eliot. The Waste Land. 1922. Hier einsehbar: https://www.poetryfoundation.org/poems/47311/the-waste-land

Die War Boys und ihr Vordenker

Hintergrund

 

George Miller, Regisseur von Fury Road, stammt von griechischen Flüchtlingen aus Anatolien ab, welche ihren Namen, «Milliotis», in Australien anglisiert hatten. Er wuchs in den Vierzigern und Fünfzigern im ländlichen New South Wales auf, wo die obsessive Autokultur allgegenwärtig war und regelmässig ihre Opfer forderte. Er spricht von «Violence and road carnage» und erzählt davon, wie unheimlich viele in seinem Freundeskreis schwere Verletzungen von Autounfällen hatten, noch bevor sie ihr Studium begonnen hatten. Er studierte Medizin und wurde Notarzt, wodurch er mit den Folgen dieser Autokultur umso direkter in Form von Unfallpatienten – meistens männlich – konfrontiert wurde. In den Siebzigern arbeitete er als Arzt und produzierte nebenher experimentelle Kurzfilme, für die er zum Teil Auszeichnungen gewann. Die Autokultur, körperliche Traumata, die Ölkrisen der Siebziger, experimentelles audiovisuelles Erzählen: All diese Einflüsse brachte er in seinem Spielfilmdebüt zusammen: Mad Max, einem Auto-Western, der inmitten der Apokalypse spielt. Filmisch gewagt und einzigartig – und doch ein Riesenerfolg, der seinen Hauptdarsteller, Mel Gibson, weltbekannt werden liess, und einen noch erfolgreicheren zweiten Teil nach sich zog. Der dritte Teil, jedoch, kam weniger gut an und liess die Filmserie Ende der Achtziger vorerst abgeschlossen scheinen.

 

Miller widmete sich anderen Filmen, darunter zwei über ein sprechendes Schwein und zwei andere über einen stepptanzenden Pinguin. Mad Max hatte er dabei nicht vergessen und entwickelte in den Neunzigerjahren bereits ein Skript für einen vierten Teil. Es dauerte aber insgesamt drei Dekaden nach Teil drei, ehe Fury Road in die Kinos kam. Zu zahlreich und unerwartet waren die Hindernisse: Mel Gibson gab antisemitischen Mumpitz von sich und machte sich so für eine Reprise der Rolle unmöglich; der geplante Drehort in Australien war durch ungewöhnliche Regenfälle mit Vegetation überzogen worden und der stepptanzende Pinguin, Happy Feet, war doch sehr erfolgreich und verzögerte die Arbeit an Fury Road.

 

Die grösste Herausforderung aber: Jeder Mad-Max-Film war in seiner Ästhetik und Inszenierung kompromissloser und bombastischer geworden. Dieser Film sollte vieles sein – wortlos verständlich, bildgewaltig, schnell, subversiv, revolutionär, noch wahnsinniger als die drei davor – aber sicher nicht billig. Ausserdem hatte 9/11 den US-Dollar so sehr geschwächt, dass internationale Projekte zu teuer wurden. Über ein Jahrzehnt von Verhandlungen und internen Personalwechseln beim Studio waren für das grüne Licht nötig, was schlussendlich kam.

 

Miller rüstete zur Materialschlacht. Über 130 Gefährte wurden eigens entworfen, gebaut und nach Namibia überschifft, dem neuen Drehort, wo dutzende kahlgeschorene, durchtrainierte Glatzköpfe bereits für ihre Rollen trainierten. Sie lebten wie in einer theokratischen Sekte; unter rituellem Trommelgetöse empfingen die sogenannten War Boys die Schauspielerinnen des Films, die weiss verhüllt anreisten. Das alles hatte seinen Sinn und Zweck. Bei der Vorbereitung dienten nämlich nicht nur dieses über anderthalb Jahrzehnte entwickelte Drehbuch, sondern ebenfalls der Schauspiel-Philosoph Nico Lathouris und die feministische Aktivistin und Autorin der Vagina-Monologe, Eve Ensler. Die Hauptdarstellerin Charlize Theron sinnierte später darüber, dass ihre Performance von ihrer eben begonnenen Mutterschaft gefärbt war; sie hatte wenige Wochen vor Drehbeginn entbunden.

 

Über Monate hinweg rasten Cast&Crew besinnungslos furios über die namibische Wüste, bis dieser aberwitzige Streifen im Kasten war. Computergenerierte Action sollte nicht zum Einsatz kommen, wo nicht unbedingt nötig. Das war für viele ein belastender Dreh, nicht zuletzt für den mittlerweile siebzigjährigen George Miller. Das Projekt glückte aber über alle Maße: Der entstandene Film ist in jeder Hinsicht ein furioses Spektakel – und doch ist er nicht repetitiv oder inhaltsleer. Auch wenn er narrativ kaum Kontext gibt und zum grössten Teil aus feuriger Action besteht, bleibt er intellektuell stimulierend mit einer unaufdringlichen und doch deutlich spürbaren Komplexität.

 

Filmkommentar

 

Fury Road ist trotz allem ein optimistischer Film. Der simplistische Kampf gegen «die da oben» ist hier berechtigt und gut: Es geht um eine Einöde, deren Misere aus einem Triumvirat von kranken Herrschern besteht. Eine Revolution wird diese stürzen und ein Leben in Würde wieder ermöglichen. Das Mittel dazu, lebensspendendes Wasser, hat der oberste Herrscher für sich gepachtet: Immortan Joe sitzt auf einer rar gewordenen Wasserquelle und geniesst somit die absolute Macht in seiner phallischen Zitadelle. Seine Rüstung ähnelt einem Wasserfall, der aus seinem Schritt entspringt. Wie sein Namensvetter Josef Fritzl hält er seine Sex-Sklavinnen hinter einer wuchtigen Stahltüre eingeschlossen. Der Vergleich reicht aber weiter: Beide dieser pervertierten Vaterfiguren – die auch noch wie der heilige Josef heissen – rechtfertigen die Versklavung mit einer korrumpierten äusseren Welt, vor der geschützt werden muss. Darauf spielt ein Slogan an, den Nux einmal ausruft: «We are not to blame» (uns trifft keine Schuld). Immortan Joes Diktatur ist geframet als Reaktion auf die Apokalypse, an der er keine Mitschuld haben will.

 

Nun wirkte Ende der Neunzigerjahre eine theokratisch-faschistische Reaktion auf die Klimakrise wie pure Fiktion. Junge Männer aus westlichen Gesellschaften, die sozial wie theologisch überholte Standpunkte einnehmen, sich dabei als «Boys» bezeichnen und einem greisen, empathielosen Sultan hinterherhecheln? Nur ein Jahr nach Fury Road gründeten sich tatsächlich die Proud Boys, deren Slogan lautet: «Ich bin ein stolzer westlicher Chauvinist und werde mich nicht dafür entschuldigen, die moderne Welt erst erschaffen zu haben.» – We are not to blame.

 

Aber bereits vor den stolzen Waschlappen war ein solches Gebaren nicht rein fiktiv. Die Boys werden als «kamicrazy» bezeichnet, eine Anspielung an die Kamikaze-Krieger. Bei der Recherche machte mich eine Bekanntschaft auf die Ähnlichkeit aufmerksam zwischen den Boys und Fussball-Hooligans. Sigmund Freuds Massenpsychologie greift bei all diesen Beispielen: Das Individuum wird in der Masse anonym – die Boys sind kahlgeschoren und kaum voneinander zu unterscheiden – es wird ferner primitiv und idealisiert einen Führer. Das Phänomen ist also nicht kulturspezifisch, sondern recht universell; bei Vergleichen der War Boys mit dschihadistischen Gruppen darf man das nicht aus den Augen verlieren. Eine Mehrheit der von mir Befragten aus meinem Bekanntenkreis gab an, die Ästhetik der War Boys durchaus zu geniessen. Die Filmmusik, im Film selbst von den Boys gespielt, reisst uns erst richtig rein; im infernalen Sturm erklingt mächtig das Walhalla-Thema, wir sollen uns zusammen mit den Boys auf den bevorstehenden Tod freuen und die Zerstörung bewundern. Ich selber erkenne diese Ästhetik in meinem Genuss des Black Metal wieder, einer besonders kakophonen und ästhetisch grotesken Form des Metal, wo gerne auch Walhalla und dergleichen besungen wird. Ein grosser Teil der Black-Metal-Fans nimmt eine seltsame Position ein, wonach das neo-paganistische Besingen von Walhalla möglichst unpolitisch sein soll, bzw. einfach vor linker Kritik immun. Und ja, auch die War Boys sind individuell betrachtet unpolitisch. Sie ersticken politische Veränderung im Keim und lassen keine Rationalität zu. Wer sich hingegen seines Verstandes bedient und dadurch gefährlich politisch wird, das sind hier die Frauen.

 

Diese bilden eine Antithese zum wilden Haufen der War Boys. Sie sind das letzte Überbleibsel eines Bildungsbürgertums, sind also eloquent und gewitzt. Sie existieren aber auch unter dem Mantel chauvinistisch-männlicher Unterdrückung. Schön sind sie, weil sie im goldenen Käfig leben und sich dem Immortan entsprechend kleiden müssen. Ihre weisse Kleidung suggeriert Reinheit, Unberührtheit – sie manifestiert also die projizierende Sicht des Immortans. Als sich die Frauen waschen, haben wir kurz Teil an seinem Blick: Das Wasser kontrastiert mit dem Rest der Umgebung; es ist sauber, selten, kostbar. Die weiblichen Körper teilen diese Eigenschaften – und schon müssen wir uns fragen: Objektifizieren, also entmenschlichen wir hier die Wives mit unserem Blick? Denn am Wasser haftet noch eine zusätzliche Assoziation, die ebenfalls den Frauen aufgezwungen wird: Die Fähigkeit, Leben zu erschaffen. Das ist ein egoistischer Wunsch des Immortans, der seine Macht durch Vergewaltigung ausübt und sich so Nachfahren erschafft. Hinter dem praktisch euphemistischen Wort «Wife» steckt eine grausame Realität, die vom War Boy deutlicher ausgedrückt wird mit dem Wort «Breeder»: Sie sind Gebärmaschinen.

 

Ich verwende dieses Wort sehr bewusst, da Körper im Film Gegenstände oder Nutztiere sind, und Gegenstände zu Körpern werden. In der Zitadelle wird die Maschinerie von Sklaven angetrieben, Frauen werden gemästet und aufs Milchgeben abgerichtet, alle Untergebenen des Immortans sind gebrandmarkt. Alles erinnert an Ochsen und Kühe. Gesunde Körper können für die Blutgewinnung nutzbar gemacht werden: Max hängt zunächst von der Decke und steckt nachher vorne am Auto – sein Blut soll nämlich möglichst reich an Adrenalin sein (im Film genannt «Oktan»). Und so wie das Brüllen und Fauchen der War Boys die Motorengeräusche komplementiert, so sind die Geräusche der Fahrzeuge auffallend lebendig. Der War Rig schnaubt und schnappt gierig nach Luft als Reaktion auf die Wehen von Angharad, von den Harpunen getroffen sprüht er mit Walgeräuschen die Milch nach draussen und die vermeintlichen Motorengeräusche sind tatsächlich stark bearbeitete Laute von Bären und Walfischen. Das Gefährt von Immortan Joe besteht aus zwei Cadillacs, die schräg übereinander montiert sind und laut dem Chefdesigner soll das kopulierende Autos darstellen. Imperator Furiosa ist das klarste Beispiel der Vermählung von Mensch und Maschine mit ihrer Arm-Prothese. Dadurch ist sie eine gehandicapte Anführerin einer feministischen Revolte – es gab aber kein Klagen darüber, dass der Film zu woke sei.

 

Was aber durchaus bemängelt wurde, ist, dass der Film möglicherweise die Beschaffenheit von Körpern an eine moralische Wertung koppelt; das ist der sogenannte Ableismus. Die Schönen sind die guten, die Hässlichen und Deformierten sind die Bösen. Das ist im Film durchaus spürbar; wegen George Millers Erstausbildung als Mediziner ist der Körper bei ihm ein Bedeutungsträger und keine Entscheidung willkürlich. Das bezeugen solche Details, wie zum Beispiel hörbar austretende Luft, als sich Max die Nadel aus dem Hals zieht; wenn so eine Nadel zu lange steckt, bilden sich schmerzhafte Luftbläschen, die Max noch vor Nux geweckt haben. Wenn es also um Körper und Gesundheit geht, schaut Miller sehr genau hin. So auch die Vuvalini mit ihrem durchaus entmenschlichenden Duktus mit den Körpern der Frauen. Die War Boys sind nicht nur im übertragenen Sinne verstrahlt, sie leiden alle an Krebs und sind deshalb auf Bluttransfusionen angewiesen. Und der Menschenfresser trägt eine Nasen-Prothese, da ihm Lepra die Nase genommen hat. Man mutmaßt in der Fan-Community, ob seine Krankheit eine Folge von Kannibalismus sein könnte. Der Menschenfresser ist darüber hinaus hochinteressant; er verkörpert einen zügellosen Hedonismus: Als einziger ist er in der Einöde fähig, übergewichtig zu sein, abgesehen von den versklavten Milchmüttern, womöglich weil er tatsächlich Menschen konsumiert und sein Kostüm mit den Nippelklammern deutet auf eine extravagante Sexualität hin. Im Drehbuch trug er ebenfalls Frauenkleider und befummelte sich im Kampf. Darauf wird mit seiner lüsternen Reaktion angespielt, als er die eine Kämpferin der Vuvalini überfährt. Das erste Konzept vom Menschenfresser sah ausserdem einen Schlauch im Schrittbereich vor und tatsächlich hören wir im Film leise Fliegengeräusche, wenn er im Fokus ist. Er erledigt also nicht nur das Geschäftliche unterwegs, sondern auch sein Geschäft, wohl zu seinem perversen Gefallen. Der Menschenfresser ist ein reizüberfluteter Körper zu Lasten seiner Umwelt.

 

Und so würde ich diese implizite Verurteilung von Krankheit und Perversion im Film verteidigen. Im Grunde geht es bei dieser Körpersymbolik darum, wer von etwas profitiert und wer zu Schaden kommt. Max ist ja der «Universal Donor» und unterstützt so zunächst Nux – unfreiwillig – und heilt Furiosa schlussendlich aus freien Stücken mit seinem Blut. Ein universaler Spender ist er auch im übertragenen Sinn. Ein Freund und Helfer in der alten Welt, ist er auch hier immer in der unterstützenden Rolle. Doch ist ihm diese Verantwortung zu seinem grössten Laster geworden: Er wird geplagt von den Apparitionen seiner Liebsten, die er nicht vor dem Tod bewahren konnte. Darum verbindet er sich nur zögerlich mit dem Frauenaufstand. Dass die Frauen der Tod erwartet, festigt deshalb zuerst seine ablehnende Haltung – nicht noch einmal jemanden sterben sehen, der ihm irgendwie nahestand. Das Argument, dass es hier um Befreiung geht, überzeugt ihn aber dann doch. Nur wird er bald darauf retraumatisiert, als Splendid Angharad stirbt – wegen der Streifschusswunde, die er ihr selber empathielos zugefügt hatte.

 

Auch Nux stirbt, mit ihm war Max immerhin per Blutsbrüderschaft verbunden; sie waren buchstäblich «Brothers in Arms» – so heisst ein Stück im Soundtrack. Nux erfährt nie wie Max überhaupt heisst, «Bloodbag» bleibt sein einziger Name für Max. Doch Freundschaft kann man das nennen, es wird einfach beeindruckend subtil erzählt, etwa anhand des Schuh-Motivs: Max verliert kurz vor dem Sturm einen Schuh an Slit, nimmt darum Nux nach dem Sturm einen Stiefel weg. Als Teil der Beute vom Bulletfarmer bringt er ihm später einen Ersatz dafür. Die Kette an Nux’ Hals ist ein manifestes Symbol seiner unklaren Zugehörigkeit und ebendiese Kette vereitelt auch seinen Mordversuch. Es sind diese kleinen Symbole und Gesten, sowie die vielen akuten Gefechtssituationen, mit denen die Solidarisierung zwischen den Figuren erzählt wird. Es ist nicht nur eine einzige Tschechow-Flinte, die im Film entladen wird, sondern ein ganzes Arsenal davon. Und das bezeichne ich als unaufdringliche Komplexität, weil die affektiven und, ja, spirituellen Konsequenzen dieser Entwicklungen weitreichend sind.

 

Ich habe von der post-traumatischen Abschottung von Max erzählt, die er zum Teil überwindet. Ich habe von der Objektifizierung der Frauen gesprochen; die Geschichte ist ihr Kampf der Subjektwerdung. Und entgegen der erwähnten Anonymisierung der War Boys lernt Nux die Macht des Mitgefühls kennen, für die er sich auch opfert. Sein Wunsch zu sterben, ja, historisch zu sterben auf dem Pfad der Furien, wie er anfangs sagt, geht in Erfüllung. Sein Tod wird von seiner Geliebten bezeugt (witnessed), gemäss seiner Religion, und sein Opfer wird mit der rituellen Geste der Vuvalini von ihr erwidert. Die beiden verfeindeten Religionen kommen hier zusammen, was mit der E-Gitarre und dem Lenkrad markiert wird. In diesem pathetischen Moment werden die Symbole neu besetzt. Standen diese beiden Dinge einst für den Immortan, so stehen sie jetzt für Befreiung. Der Immortan hielt seine War Boys infantilisiert und seine Frauen keusch; die freie E-Gitarre und das fliegende Lenkrad sind in meinen Augen unverschämt befreite Genitalien – ich erfülle somit wiedermal das Klischee des freudianischen Ansatzes.

 

Aber was wurde konkret erreicht? Wozu diese ganze Materialschlacht? «Where must we go […in] this Wasteland […]», fragt uns das erfundene Zitat am Schluss. Diese Nennung von „Wasteland“ geht sehr wahrscheinlich auf den Kulturtheoretiker Joseph Campbell zurück. Dort steht dieser Ausdruck für eine innere Verstimmung, die sich symptomatisch in der Landschaft äussert, wie beim kranken Fischerkönig in Parzival. Nach dem ersten Weltkrieg schrieb T.S. Eliot im Gedicht The Waste Land ebenfalls zu diesem Konzept, wo dieser als Antwort auf Zerrüttung und Leere die drei folgenden Worte aus einer der Upanishaden zitiert: Datta, Dayadhvam, Damyatta. Geben, sich zügeln und Empathie aufbauen. Drei starke und sehr wichtige Konzepte.

 

Die Immortan-Theokratie war von zügelloser Ausbeutung gekennzeichnet. Er gab nicht, sondern hortete alles für sich, und kannte auch kein Mitgefühl. Er konsumierte indes zügellos und beutete aus. Der geizige Menschenfresser verkörpert das noch stärker. Der Gott jener Religion, also Immortan, ist jetzt aber tot, nun kann der wahre Gott zurückkehren, in Form von: ökologischer Zügelung, Verständnis füreinander und materieller Umverteilung. Es sind diese Ideale, die im Verlauf der Handlung erkämpft worden sind. Ebenfalls ist die exhibitionistische Obsession mit dem «Witness me!» vergangen und mit einem theologisch sinnvollen Fundament ersetzt worden. Hierzu nehme ich wieder zwei kleine, aber bedeutungsreiche Momente auf: Anfangs hatten Nux und Slit sehr ostentativ in Richtung des Immortans gebetet und wurden ob seines Blicks geradezu ekstatisch. Später betet eine der Wives – vor deren Reise durch das finstere Tal – und gibt offen zu, sich nicht gross zu scheren, wer oder was da womöglich ihrem Gebet zuhört. Zwei Stellen, die aufzeigen, was Kierkegaard über das Beten sagt: Es sei ein Akt, der nicht Gott oder die Welt verändern soll, sondern den Betenden. Ein entscheidender, ja, alles verändernder Unterschied besteht aber: in der materiellen Konsequenz dieses Betens, den Zielen der Betenden. Eine wahrhaft solidarische Theologie akzeptiert den stillen Gott und lässt diesen in Form von kommunalen Taten erlebbar werden. Der Segen muss auch ein materieller sein. Es kommt darauf an, ob das Brot auch wirklich geteilt wird. «Der Herr deckt reich den Tisch und füllt den Becher bis zum Rand.»

 

Und das passiert nun. Die Frauen haben die Samen der Vuvalini heimgebracht, die Milchmütter lassen das Wasser strömen, es verteilt sich grosszügig in der Gemeinde, es erwächst wieder Hoffnung.

 

Datta, Dayadhvam, Damyatta, Amen.

 

Bibliographie

 

Abbie Bernstein. The Art of Mad Max: Fury Road. Titan: London 2015 (zitiert aufschlussreiche Äusserungen der Kostüm- und Autodesigner)

Big Joel. «The Wasteland of Jordan Peterson.» Youtube, 04.01.2020, https://www.youtube.com/watch?v=wZoHGAK3k-I (für die Interpretation von Eliots Waste Land)

The Deep Dive. «MAD MAX FURY ROAD BREAKDOWN! Secret of the Chrome.» Youtube, 19.09.2023, https://www.youtube.com/watch?v=_SNIlbvFPFE (an einigen Stellen fehlerhaft, aber für einige Details wertvoll, u.a. einige Insights aus dem Drehbuch)

FILM CRIT HULK. «Why MAD MAX: FURY ROAD Works – A Scene-By-Scene Breakdown.» YouTube, 29 August 2021, https://www.youtube.com/watch?v=8K2YdftsywM (beste Gesamtinterpretation, insb. die nuancierte Aufarbeitung der feministischen Themen und der Widerspruch gegen den Ableismus-Vorwurf)

Kennedy Miller Mitchell. Mad Max: Fury Road (Drehbuch mit Storyboards). Einsehbar unter: https://static1.squarespace.com/static/5a1c2452268b96d901cd3471/t/5be5d2b2898583a66a5e0001/1541788344746/mad-max-fury-road-2015.pdf (unklar, wer das hochgeladen hat und wieso es fragmentarisch ist)

Kyle Buchanan. Blood, Sweat & Chrome: The Wild and True Story of Mad Max: Fury Road. William Morrow: New York City 2022 (Grossteil der zitierten Fakten sind hieraus)

Lindsay Ellis. «Planting and Payoff – Featuring Mad Max: Fury Road.» Youtube, 02.02.2017, https://www.youtube.com/watch?v=PLLGN7zv-3k (aufschlussreiche Erklärung der subtilen Komplexität und der medizinischen Details)

Morgan Mussel. «Fear in a Handful of Dust.» The First Gates, 26 Jan. 2021, https://thefirstgates.com/tag/joseph-campbell/. (für den Eliot-Campbell-Link)

Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse in: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Band XIII. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 1972, S. 71–161. Hier einsehbar: https://www.projekt-gutenberg.org/freud/massen/

Søren Kierkegaard. Erbauliche Reden in verschiedenem Geist. 1847. In zusammengefasster Version hier einsehbar: http://sorenkierkegaard.org/upbuilding-discourses-in-various-spirits.html

T.S. Eliot. The Waste Land. 1922. Hier einsehbar: https://www.poetryfoundation.org/poems/47311/the-waste-land

Die War Boys und ihr Vordenker